Gemeinsam am Feuer.
Die Bedeutung des Feuers in besonderen Zeiten – und grundsätzlich.
„Rückkehr ans Lagerfeuer“. So lautet die Überschrift eines Artikels in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag vom 22. März 20. Der Artikel beschreibt Form und Bedeutung der bundesrätlichen Medienkonferenzen in diesen Tagen der Corona-Krise. So steht geschrieben: „Die Medienkonferenzen bieten die beruhigende Struktur in einer beunruhigenden Zeit. Die Bevölkerung, die sich draussen nicht mehr versammeln soll, versammelt sich drinnen am Lagerfeuer.“ Auch der Fernsehpromi Nik Hartmann bedient sich des Bildes des Lagerfeuers, wenn er die aus aktuellem Anlass geschaffene Samstag-Abend Fernsehsendung „zämä dihei“ anmoderiert: „Wir sind so etwas wie das Lagerfeuer der Schweiz.“
Das sind auffällige Gleichzeitigkeiten. Wieso taucht gerade in diesen Tagen das Bild des Feuers so oft auf?
Vom Lagerfeuer zum Fernseher – und zurück
Das Feuer hat in der Menschheitsgeschichte eine zentrale Bedeutung. Zentral im wahrsten Sinne des Wortes. Die modernen Wissenschaften, insbesondere die Archäogenetik (befasst sich mit der Untersuchung von Erbmaterial der Menschen sowie der Tiere und Pflanzen, um Erkenntnisse über die Evolution zu gewinnen.) und die Anthropologie sind sich einig, dass die Kultivierung des Feuers ein wesentlicher Faktor in der menschlichen Entwicklung darstellt. In vielen Entwicklungsschritten, die sich über hunderttausende von Jahren hinzogen, lernte der Mensch mit der Glut umzugehen und dann auch Feuer zu entfachen und zu hüten. Seit vielen hunderttausenden von Jahren lebt und entwickelt sich die menschliche Spezies rund um das Feuer. Das Lagerfeuer, das Kochfeuer und bestimmt auch das rituelle Feuer bilden das existentielle Zentrum des Zusammenlebens.
Die Menschen sitzen im Kreis, in der Mitte ein Feuer. Dieses Erleben und Überleben lebt als archaischer Erfahrungsschatz tief in unseren Knochen, und nicht nur dort. Dieser Schatz wird auch Urvertrauen genannt und schimmert in diesen aktuellen Zeiten der Unsicherheit als Sehnsucht zu uns durch. Auch wenn mittlerweile das offene Feuer in die Öfen verschwunden ist und der Fernseher die Blicke weg von den lodernden Flammen hin zur flimmernden Kiste gelenkt hat.
Das Feuer als Schutzraum
„Die Medienkonferenzen bieten die beruhigende Struktur in einer beunruhigenden Zeit…“ (NZZ, 22.3.2020) Das Feuer in der Nacht spendet nicht nur Licht und Wärme sondern auch Schutz. Die wilden Tiere meiden das Feuer. Das wissen wir seit „Mogli und dem Dschungelbuch“ sowie anderen Erzählungen die uns dem Leben mit der Wildnis erinnern. Wer schon einmal draussen an einem Feuer übernachtet hat, kennt diesen Schutzraum den ein knisterndes Feuer macht am eigenen Leibe. Einen Schutzraum erfahren bedeutet, sich sicher und aufgehoben zu fühlen. Der Raum um das Feuer macht einen Unterschied zu der Wildnis da draussen. Sicherheit, Vertrautheit, Entspannung vielleicht so etwas wie Gemütlichkeit breitet sich aus.
Das Lagerfeuer als sozialer Raum
Als die Menschen noch im Kreis ums Feuer sassen, vor der Entwicklung der Schrift und lange vor dem Fernseher, wurde am Lagerfeuer gekocht und gemeinsam gegessen. Am Feuer wird „palavert“, verhandelt, Witze werden erzählt, Entscheide gefällt, gemeinsam geweint, gelacht, Feste gefeiert und natürlich Geschichten erzählt und somit Wirklichkeiten geschaffen. Der Kreis am Feuer ist auch der tägliche Raum um Gerechtigkeit und Solidarität zu sichern. „Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen“ sagt die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz, sichtlich berührt und mit eindringlicher Stimme. Oder, Daniel Koch, Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten des BAG (Schweizer Bundesamt für Gesundheit), mit seiner fast meditativen Art und Weise zu sprechen und seiner Ausstrahlung wie ein ZEN Mönch: „was ich im Moment nicht so schön finde ist, wenn ich alte Leute mit dem Rollator im Einkaufszentrum antreffe.“
Die Menschen sitzen da und hören zu. Das Bewusstsein, dass sich die Wirklichkeit des Zusammenlebens tatsächlich verändert, sickert langsam ein.
Am Lagerfeuer (am analogen und am digitalen) entstehen gemeinsame Wirklichkeiten. Ängste und Bedenken können in diesem sicheren Raum ausgesprochen und gehört werden und sich in wärmende Zuversicht und Hoffnung verwandeln. Die in diesen Tagen drohende Einsamkeit weicht einem Gemeinschaftsgefühl.
Das Feuer als kollektiver Verbindungsraum
In der praktischen Arbeit mit Menschen in der Natur, spielt das Feuer eine zentrale Rolle. Sei es im Naturtherapeutischen Kontext, in einem Teamcoaching, einem Feuer Dialog oder auch in einer Einzelbegleitung. Nebst den ganz konkreten Wirkungen des Feuers als Wärmespender, als Kochfeuer zur Zubereitung köstlicher Mahlzeiten entsteht ein Raum mit besonderen atmosphärischen Qualitäten.
Im stillen Sitzen um das Lagerfeuer und im langsamen Sprechen und Lauschen verändert sich die Wahrnehmung. Verborgene Geschichten werden erinnert und das Potential der Zukunft wird Teil der Runde. Die scharfen Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft werden im Spiel der Flammen gelockert. Gegenwärtigkeit stellt sich auf natürliche Weise ein. Die gewohnte Trennung zwischen „Ich“ und „Du“ wird sanfter und ein eigenartiges Verbundenheitsgefühl entsteht. Verbundenheit zu mir und meiner Geschichte, zu den anderen Menschen und zu der Landschaft die uns beheimatet. Diese Geschichten erzählen nicht von einsamen Helden. Sie erzählen vom Zusammenspiel der Elemente. Von Verwandtschaften von Vogel, Baum Wind und Mensch. Das Lagerfeuer umschliesst somit, nebst der Menschengemeinschaft auch die Gemeinschaft „der anders als menschlichen“, der naturgegebenen Welt. Wir sind Teil einer Geschichte des Lebens die seit Jahrmillionen erzählt wird und immer wieder Formen der Erneuerung gefunden hat.
Das Feuer der Zuversicht
„Gemeinsam schaffen wir das!“ Diesen Satz habe ich von Bundesrat Alain Berset in den letzten Tagen immer wieder gehört. Dort hinter der Corona-Welle gibt es Neuland. Dort brennt das Feuer im Leuchtturm. Es wäre zu wünschen, dass sich mit dieser Krise das Zusammenleben im Kleinen und im Grossen wandelt. Vieles ist möglich und es gibt noch viel zu lernen. Wir gestalten den Kreis ums Feuer, entscheiden ob wir uns einladen lassen. Ängste wollen angeschaut werden, die Beziehungen zu den Mitmenschen und zur Natur wollen überprüft und gewandelt sein. Im Schutze des Feuers ist vieles möglich. Lasst uns gemeinsam ans Feuer sitzen. Zurzeit in kleinen Gruppen von maximal fünf Menschen. Verbunden mit einem grösseren Ganzen.
Christian Mulle ist Organisationsberater/Coach, Naturtherapeut, Bergler und Mitinitiant vom Verband Natur-Dialog
Infos zum Feuer Dialog unter www.walkout.ch
Fotos: Christian Mulle, Sinha Weninger
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