Die vielen Du
Astrid Habiba Kreszmeier im schreibenden Nachdenken über die Crux mit den grossen Wörtern, sagenhaft, sinnlich, verwobene, vielfältige Lebendigkeit und die Liebe zu vielen Du’s.
Um-Lernen oder Neu-Lernen ist in engagierten Kreisen für Klima, für soziale Gerechtigkeit, für Kreislaufwirtschaft, für Postwachstum, für die Natur oder gar für Natur-Dialog wesentlich. Unter «uns» wird geahnt, gewusst und vielfach belegt, dass es auf der Welt so nicht mehr lange weiter gehen kann. Es geht hier mehrheitlich nicht mehr fair zu, Weniges expandiert auf Kosten von Vielem, das Leben ist kaum mehr organisch noch gesund, und es folgt einem zweifelhaften Sinn.
Die intellektuellen Eliten [1] bemühen sich um Beschreibungen zum Um-Lernen, also um das Finden und Praktizieren von anderen Zusammenhängen und Unterscheidungen und gehen noch einen Schritt weiter: Sie suchen Wege des Lernens, die uns nicht nur beibringen, den Hammer besser auf den Nagel zu schlagen oder sogar zu erkennen, dass die Welt nicht nur aus Nägeln besteht, sondern die helfen, unsere automatisierten Vorannahmen samt Hammer und Nagel aufzuschmelzen und zu einer anderen Wahrnehmungsweise, zu anderem Schauen und Handeln zu kommen.
Es geht also um nichts Geringeres als Ver-Lernen. [2] Das ist ein recht schwieriges Unterfangen, weil wir halt nicht so leicht aus unserer Haut kommen, wie meine Mutter zu sagen pflegte. [3]
Sagenhaft, sinnlich, verwobene, vielfältige Lebendigkeit
Mit unserer Haut meinte sie freilich diese sagenhaft verwobene Lebendigkeit von Aufmerksamkeiten, Empfindungen, Deutungen, Sprachbildern, Wörtern, Überzeugungen, vegetativen Reaktionen, Gesten, Handlungen und noch vieles mehr, die uns von Moment zu Moment durch die Welt begleiten und mit ihr in Austausch sein lassen. Sie meinte also das, was wir unser Bewusstsein nennen könnten, das uns durch eine bestimmte Weise der Aufmerksamkeit zu einem kohärenten Ich- und Weltempfinden verhilft (oder eben auch nicht ).
Und weil wir diese uns eigene sagenhaft sinnlich verwobene Lebendigkeit nicht irgendwo als Fertigprodukt erstanden haben, sondern sie in einem ungeheuer sinnlichen, körperlichen, emotionalen, kognitiven und kulturellen Begegnungsraum fortwährend bilden, ist es eben nicht so leicht, einfach anders zu sein als man eben ist. Es tut mir leid, viel einfacher kann ich es heute nicht schreiben. Ich vermute, es ist eigentlich noch viel komplexer.
Dennoch: Komplexität ist ein gutes, ja wichtiges Stichwort, weil das, worüber ich hier schreibend nachdenke, im Kern wohl mit dem legitimen Bedürfnis zu tun hat, Komplexität zu reduzieren. Und zugleich mit dem lebensnotwendigen Verfahren unseres Bewusstseins so viel wie möglich zu automatisieren, um für das, was gerade um uns ist, ausreichend gegenwärtig sein zu können.
Unser Bewusstsein könnte ohne Automatisiertes und Vereinfachendes nicht überleben, darum ist das mit dem «Ver-Lernen» auch so schwierig.
Wie an jene Automatismen und Komplexitätsreduktionen rankommen, die eher hinderlich denn lebensförderlich sind, ohne jene Grundmuster zu bedrohen, die uns vertrauensvoll und liebevoll Halt und Mass geben? Und wer kann darüber befinden?
Wir Menschen sind mit-werdende Geschöpfe von seit rund 3,8 Milliarden Jahren währenden kontinuierlich sich selbst erschaffenden, ineinander verflochtenen symbiotischen Bewegungen. Wir sind innerhalb dieser Sympoiese [4] seit rund 2 Millionen Jahren eine sich entwickelnde Spezies und seit etwa 300 000 Jahren jene Homo Sapiens, die Lebensfäden über Generationen und Generationen weitergeben. Durch unser artspezifisches Zusammenleben sind wir auch in Sprache eingebettet und bewahren und verwalten mittlerweile diesen schier unendlich scheinenden Schatz an Geschichten in verschiedenen Archiven der kulturellen Gedächtnisräume. [5] Unglaublich. Unfassbar grossartig! Was für eine Fülle!
Grosswörter – Verständnis
Es ist mehr als verständlich, dass wir im Laufe der Zeit, in der sich nicht nur Zeit akkumuliert hat sondern wir auch mächtig an Zahl gewachsen sind (und dies weiterhin tun) komplexitätsreduzierende Ideen einerseits und platzschaffende Alternativen andererseits entwickelt haben.
Es ist mehr als verständlich, dass es irgendwann auf der Erde enger wurde und wir begonnen haben den Himmel (welch Raumpotential!) als Ausweichort, Archiv und Erlösung mitzudenken.
Es ist mehr als verständlich, dass diese ungeheure kreative Ursuppe mit ihren ungeheuer vielen Wesen, dieses vielfältige Zusammenspiel und der weite Himmel irgendwann als das Eine, das Universelle, das grosse Ganze zusammengefasst wurden.
Dass das wundersam Tiefe mit tausend Gesichtern und Armen zu einem sauberen Gott dort im Jenseits wurde und dass es aus verschiedenen Gründen praktisch war, Gott als den Herrn zu denken, auch das lässt sich unter dem wachsenden Bedürfnis der Vereinfachung verstehen. Und dass ein Gott letztlich auch einer Menschheit vorsteht, die einer Geschichte des fortschreitenden Fortschritts unterliegt und eigentlich nach dem einen Frieden strebt, auch das! Dass es für all das komplex Zusammenwirkende universelle Erklärungen, also möglichst abstrakte Universaltheorien, braucht und heutzutage im Schimmer von all dem ein Integrales Bewusstsein durchdrückt, in dem das grosse Kollektive aufgehoben ist, auch das liegt auf der Hand.
Und um dieser Litanei bei einem sehr persönlichen «Grosswort» hier ein vorläufiges Ende zu setzen: Es ist eben auch verständlich, dass aus diesen hoch differenzierten, vielwesenhaftigen Naturwelten, die uns umgeben, wir in ihnen verschlungen, dass aus ihnen “die Natur” wurde, so als ob es die eine Natur dort draussen gäbe, auch das gehört mit dazu.
All diese und noch viel mehr «Grosswörter» gibt es, wir haben sie mit der Muttermilch sozusagen aufgenommen, sie gehören zu den notwendigen Automatismen und sie erfüllen ihren Zweck. Und es werden auch ständig neue erfunden!
Bei allem Verständnis kann ich trotz aller gut gemeinten Erziehungsversuche eben nicht aus meiner Haut, und es lässt mich nicht in Ruhe und es fragt in mir:
Wem dienen «Grosswörter» und wo und wie und wie lange noch?
Was meinen sie? Aber eben auch: Was meinen sie (automatisiert) nicht?
Was wird durch ihre Art der Vereinfachung aus der Welt geschafft, an Ränder gedrängt, mitvereinnahmt, umgedeutet, weggefegt?
Rückgewinnung der Du’s
All das frage ich mich und ich bin damit ja nicht allein. Es gibt sehr, sehr Viele, die diese Fragen stellen. Aus kulturhistorischem Interesse aber auch aus existentieller Bedrohung. [6]
Und je mehr und länger ich mich diesen Fragen aussetze umso deutlicher wird mir, dass ich das Grosswort Natur, obwohl es mein ganzes Leben grundsätzlich und massgeblich geprägt hat, mehr und mehr zugunsten der Diversität aufgeben will, ja muss!
Ich will viel mehr von diesem oder jenem Tal, diesem oder jenem Berg, diesem Fluss, diesem Baum, diesem Käfer, diesem Wind sprechen, ich will die Namen wieder erinnern und in ihnen das «Du», das sie sind. Die bescheidenen grossartigen besonderen Dus, die vielen Dus will ich wieder erinnern, mit ihnen in Dialog oder in Dialoge kommen.
Fussnoten
- [1] Als Antworten auf die sich zeigende Weltensituationen lassen sich zwei grosse Lösungsbewegungen ausmachen. Jene, die sich um erdbezogene und jene, die sich um luftbezogene Lösungen bemühen. Beide wollen das Anthropozän, also jenes vom Menschen geprägte Erdzeitalter, in eine nächste Phase hinein unterstützen. Die Erdzugewandten denken, handeln und forschen in Richtungen, die analog, leiblich, humus- und elementar- orientiert sind, die anderen setzen auf outplacement in virtuelle Räume, in repräsentierende technische Verfahren und künstliche Intelligenz. Die einen sprechen von Posthumanismus, die anderen von Transhumanismus. Und es gibt freilich auch Mischformen. Da wie dort dominieren nach wie vor männliche Stimmen.
- [2] Über das Ver-Lernen wären mindestens drei weitere Beiträge nötig. Hier will ich nur eine meiner grössten Inspirationsquellen zum «Ver-Lernen» danken: Hannah Arendt, deren Denken und Fragen zum Entstauben, Belüften und Neu-Konstellieren von Sprachbildern einlädt.
- [3] Eigentlich sagte sie das oft über meinen Vater oder meinen Bruder: «Er kommt halt auch nicht aus seiner Haut» und meinte nicht selten, ich sollte doch nachsichtig sein, so als ob es mir (als Mädchen) leichter fallen würde «aus meiner Haut zu kommen» Meine Mutter, Maria K., war eben auf ihre Art weise, das meine ich so, wie ich es sage.
- [4] Sympoiesis meint soviel wie Mit-Verweltlichung. Donna Haraway greift in «Unruhig bleiben» diesen Begriff auf, sie sagt: «Sympoiesis ist deshalb ein passender Begriff für komplexe, dynamische, responsive, situierte, historisch spezifische Systeme. Es ist ein Wort für Mit-Verweltlichung, Verweltlichung mit GenossInnen. Sympoiesis umfasst Autopoiesis, erlaubt ihre Entfaltung und erweitert sie.»
- [5] Mir sind rund um das Verständnis von Erinnerungsräumen, also Archiven unseres kulturellen Gedächtnisses, Aleida und Jan Assmann grosse Mentoren. Wer sich darin vertiefen will, dem seien ihre Bücher: Erinnerungsräume (Aleida Assmann) und Kulturelles Gedächtnis (Jan Assmann) wärmstens empfohlen.
- [6] Ich denke hier im Besonderen an die noch lebenden indigenen Völker, die heute auch Stimmen im gesellschaftlichen Diskurs übernehmen und abendländisch gebildete Intellektuelle inspirieren. Mir aus dem südamerikanischen Raum aktuell besonders bekannt: Ailton Krenak (für das Volk der Krenak) und Davi Kopenawa (für das Volk der Yanomami).
Zum weiter lesen und Ver-lernen:
Marie Luise Knott: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt
Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän
Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen
Ailton Krenak: Ideias para adiar o fim do mundo, Companhia das Letras
englische Fassung: Ideas to Postpone the End of the World
Davi Kopenawa: The Falling Sky. Words of a Yanomami Shaman

Astrid Habiba Kreszmeier, Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin im natur-dialogischen Ansatz. Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.
Foto: Hans-Peter Hufenus