Argumente für analoges Lernen
Positionspapier für situiert-leibliche Bildungsräume
Infolge der Corona-Krise hat die Bildung, haben Schulen, Aus-, Berufs- und Weiterbildungs-institutionen einen grossen Schritt in Richtung Digitalisierung gemacht. Was als Krisenmassnahme innert Tagen eingesetzt und zunächst auch nützlich war, hat die Tendenz sich zum “New Normal” zu entwickeln.
Aus der Perspektive der “Natur-Dialog Bewegung” betrachten wir dies kritisch. In einer vorprogrammierten und durch Technik abgebildeten Stellvertretungswelt wollen wir weder leben noch lehren. So beziehen Konstanze Thomas und Astrid Habiba Kreszmeier Position für situiert-leibliches Lernen und wollen die folgenden Argumente KollegInnen mit ähnlichen Anliegen in verschiedenen Fachbereichen zuspielen und zu einem Diskurs anregen.
Das Positionspapier beginnt mit einer stichwortartigen Darstellung gängiger «Irrtümer» über das Lernen und beleuchtet dann drei grosse Themenfelder, die für diesen Kontext von Bedeutung sind: zwischenmenschlich Soziales, öffentliche Mit-Verantwortung und ökologische Bedingtheiten. Die formulierten Gedankenbündel sind jeweils mit Literaturhinweisen oder weiterführenden Links versehen. Im letzten Teil findet sich ein Anhang persönlicher Stellungnahmen der erlebten Praxis aus drei Perspektiven.
Diese Initiative wurde von Konstanze Thomas und Astrid Habiba Kreszmeier lanciert und ist unter Mitwirkung von Kathrin Djamila Raunitschka, Jürg Brühlmann, Ute Vogl, Daniela Ritzenthaler, Johanna Theuring und Christian Mulle entstanden.
Wir wollen damit vor allem eine öffentliche Diskussion anregen, die das Thema überhaupt in den Fokus rückt und eine naturdialogische Perspektive aufs Lernen aufzeigt. Das Statement soll zu kollegialem Austausch und zu Vernetzung beitragen.
Hier im Magazin wird das Argumentarium in fünf Einzelbeiträgen vorgestellt, analog der oben genannten Kapitel. Es ist ein dicht formulierter Text, der nicht als “Wahrheit” erkannt werden möchte, sondern als eine Position und Einladung zum fachlichen Austausch. Wir freuen uns über Kommentare und Impulse sowie Kontaktaufnahme per Mail.
Irrtümliche Vorannahmen
Digitale Kommunikation führt zu einer enormen Reduktion von Sinneseindrücken ebenso bedingt sie den Verlust der Mehrdimensionalität unserer Wahrnehmung.
In der Annahme, dass Online-Lernsettings (seien sie synchron oder asynchron), adäquater Ersatz für Präsenzveranstaltungen sind, stecken gleich mehrere Irrtümer über das Leben und Lernen.
1 Trennung von Körper und Geist
Zuvorderst geht es um die Trennung von Leiblichkeit und Rationalität, von Körper und Geist, die in unserer Geistesgeschichte eine lange Tradition mit weit reichenden Folgen hat, in der entwicklungspsychologischen Lebenspraxis jedoch unhaltbar ist und auch im Erwachsenenalter nur unter der Ausblendung körperlicher Wirklichkeit – de facto also unmöglich – gedacht werden kann.
2 Denken geschieht im Kopf
Daraus leitet sich auch die verbreitete Annahme ab, dass Denken im Kopf stattfindet, zumindest zu einem grossen Teil. Dass wir das Draussen sozusagen als Bild und Repräsentation in unserem Nervensystem abbilden und eine Art «Homunculus» im Hirn diese Informationen sortiert, Abläufe steuert und Lernprozesse verwaltet.
3 Die Idee der Autonomie als Grundlage und Ziel von Bildung
Der dritte Irrtum ist jener, dass das auf der Idee von Autonomie beruhende und dahin strebende Lernen unabhängig von Zeit und Raum und unabhängig von sozialem Eingebundensein stattfindet, ja im Sinne der persönlichen Freiheit auch so stattfinden soll.
4 Isolierte Informationen stiften Sinn
Als viertes Stichwort möchten wir auf den Unterschied zwischen der mehrdimensionalen analogen Umwelt (wie relativ wir sie auch erleben, sie ist der irdische Rahmen, den wir zum Überleben brauchen) und einer “vermittelten”, eingerichteten, programmierten und virtuellen Welt hinweisen. «Lernsettings”, die zwischen uns und der Welt vermitteln, halten uns von realen Bezügen und Kontakt zu Lebendigem, Organischem, Beseeltem fern.
Literatur:
Arendt, Hannah (2002): Vita Activa. Piper Verlag, München.
Crawford, Matthew B. (2016): Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Ullstein Verlag, Berlin.
Noe, Alva (2006): Action in Perception. University Press Group Ltd, London. Siehe auch: www.alvanoe.com/action-in-perception (3.6.20)
Maturana & Varela (2009): Der Baum der Erkenntnis. Fischer TB Verlag, Frankfurt a.M.
Mertens, Karl (2011): Die Leiblichkeit des Handeln. In: Jaeger & Straub (2011): Handbuch der Kulturwissenschaften – Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart.
Schmitz, Hermann (2009): Einführung in die neue Phänomenologie. Verlag Karl Alber, Freiburg.
Astrid Habiba Kreszmeier, Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin im natur-dialogischen Ansatz. Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.
Konstanze Thomas ist Erwachsenenbildnerin und Mitinitiantin der Natur-Dialog Bewegung. Sie ist Makota in der terrasagrada, Schneiderin und Reisende.
CC BY ND Verwendung zu nicht-kommerziellen Zwecken erlaubt, solange dies ohne Veränderungen und vollständig geschieht und der Urheber genannt wird.
Titelbild: Konstanze Thomas
Liebe Mitschreibende des Artikels «Argumente fürs analoge Lernen»
Als ich gestern Morgen aufwachte, hatte ich den Impuls mir nach einigen nachhallenden Gesprächen zu der Corona Situation, meiner eigenen Position zum Verhalten, dem Umgang im sozialen Raum klarer zu werden. Bisher war ich eher mitgeschwommen, hatte mich weniger als mehr an die Auflagen gehalten und versucht all die Standpunkte innerhalb der Bandbreite «Verschwörungstheoretiker*innen bis radikalen Regeltreuen» zu respektieren.
Folgende zwei Spuren, gingen mir noch unter der Bettdecke, durch den Kopf und durch den Bauch.
In meiner Beratungstätigkeit war ich anfangs Lockdown unter anderem mit dem digitalen Aktionismus beschäftigt. Grosse, teilweise auch fundamentalen Verfechterinnen meiner Gilde, die sich für neue Formen und «echte» Transformationen in Organisationen einsetzten, waren im Nuh digital unterwegs. Ich wurde bombardiert mit Angeboten bezüglich Austausch zum Nutzen von digitalen Tools. Mein Widerstand war gross und ich entschied mich für einen gut schweizerischen Kompromiss, der hiess, mich nicht ganz abkoppeln und trotzdem keine digitalen Angebote für Workshops bei Kund*innen zu machen (bzw. nicht an diesem Austausch teilzunehmen). Aktuell gebe nach einigem Hin- und Her meinen ersten Online Kurs, weil die geplanten Kurse live nicht mehr stattfinden. Soviel kann ich als erste Erfahrungen bereits teilen: Meine Mittrainerin ist ganz glücklich mit diesem Format (und will am liebsten gar nicht mehr geschäftlich aus dem Haus) und ich vermisse die Nähe und die sinnliche Erfahrung zu und mit den Kursteilnehmenden. Ich kann darum den beschriebenen Erfahrung von Konstanze gut folgen.
Innerhalb eines Patient*innenforums (live), wo ich als Mitmoderatorin agiere, wünschten sich die Teilnehmenden einen Erfahrungsaustauch bezüglich des persönlichem Umgangs mit der aktuellen Situation. Eine ältere Frau erzählte wie sie nach 3 Monaten fast ausschliesslich zu Hause, plötzlich Wortfindungsstörungen hatte und Angst hatte über die Strasse zu gehen. Wohlgemerkt, ich erlebe sie als eine vitale, geistig bewegliche und kräftige Frau. Ein Mann hat geschildert, wie er sich ohne Maske plötzlich nicht mehr sicher fühlt und wie ihn das irritiert, weil er sich als nicht ängstlich einstuft. Hat er doch als Grossvater zum Beispiel auch zu Beginn des Lockdowns Kinder gehütet. Eine medizinische Fachperson meinte, wir würden wohl für lange Zeit oder für immer uns bei der Begrüssung nicht mehr die Hand geben und nicht mehr umarmen. Die Aussagen haben mich alarmiert, weil ich mich ernsthaft frage, wo diese in eine weiterwirkende Auseinandersetzung gelangen und sich nicht freefloating «unreflektiert» irgendwo (an einer Angst, an einer Regel?) andocken.
In der Folge der Gedanken dieser beiden Spuren, schmökerte ich im Magazin von Natur-Dialog und stiess auf den Artikel bezüglich analogem Lernen. Tja… Punktlandung. Aus meiner Sicht ist es von grosser Relevanz, den im Aufwind (!) sich befindenden luftbezogenen «Lösungen» (auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich alles in dem Artikel verstehe, finde ich das Bild sehr griffig) auch erdige «Lösungsvarianten» zu Verfügung zu stellen. Privat wie beruflich Räume zu gestalten, wo Menschen sich wirklich begegnen können, wo berühren, sich berühren lassen mit allen Sinnen und dem Lebendigen möglich ist.
Ich bin dankbar, im diesem «Sinniermoment» euren Artikel gefunden zu haben. Mir ist fürs Erste klar: Ich will mich deutlicher und pointierter dafür einsetzen, dass die «Erdspur» auch verfolgt werden darf (und muss!), damit die vielen Qualitäten, die virtuell nicht erfahrbar sind, nicht verloren und vergessen gehen. Sind sie doch genau jetzt sehr notwendig.
Das mein kleiner Gedankensturm und Beitrag zum Austausch.