Zirkuläre Kooperation
Samstag, 29. August, 18 Uhr in Stein (AR). Wir sitzen im Kreis und sind gerade soviel Menschen wie der Raum fassen kann: in etwa zwei Mannschaftsstärken, eine Gruppe von 26 Leuten. Wir können uns sehen und hören, der Kreis ist eine egalitäre Art, sich im Raum zu verteilen.
In der frühen Geschichte der Menschheit haben die Menschen nicht nur in Gruppen zusammengelebt, sondern sind auch in heterogenen Kleingruppen zur Nahrungssuche aufgebrochen. Anfangs sammelten sie das Fleisch, das die Raubtiere liegen gelassen hatten, abgehangen genug, um für den Menschen verdaulich zu sein und noch nicht verwest. Das Kreisen der Aasgeier über der Tierleiche signalisierte den Menschen wo etwas zu holen war. Später wurde Jagd auf Grosswild wie Mammuts betrieben. Es starb aus, als die Menschen sich zu stark vermehrten. An der gemeinsamen Nahrungsbeschaffung waren nicht nur die Männer im besten Alter beteiligt, sondern auch Frauen und Kinder und die Älteren des Clans. Solcherart ist das abgebildet in den Rekonstruktionen urzeitlichen Lebens des tschechischen Malers Burian, mit denen Hans-Peter Hufenus seine These belegt:
Kooperation ist in den menschlichen Genen angelegt. Die These vom Überleben des Stärkeren ist überholt.
Während die eine „Elf“ auf Jagd ist, bleiben die anderen elf beim Camp: die Schwangeren, Kranken, Kleinsten. Kollektive Traumata, wie Überfälle durch Reiterhorden aus dem Osten, die den Einbruch von Gewalt markieren, führen zu Brüchen im kooperativen Verhalten. Kriege gibt es jedoch erst seit ca. 10 000 Jahren. Das Volk der San in Südafrika, eines der ältesten Völker, kennt keine demokratische Mehrheits-entscheidung. Sie sitzen solange zusammen und reden, bis ein Konsens hergestellt ist.
Soweit einige Facts aus dem Vortrag von Hans-Peter Hufenus am Sonntag Morgen.
Sympoietisches Streunen
Im „sympoietischen Streunen“ erwähnt Astrid Habiba Kreszmeier am Vorabend den Begriff der „Politischen Gleichheit“, gespeist aus ihrer aktuellen Lektüre von Danielle Allens gleichnamigem Buch. Wie entsteht politische Gleichheit und welche Bedingungen sind dafür notwendig? In erster Linie geht es um das Ermöglichen von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Menschen müssen sich aufeinander beziehen können (Bonding), es müssen Verbindungen zwischen ihnen möglich sein (Bridging) und auch wenn es Hierarchien gibt, sollte die jüngste Mitarbeiterin den Weg zur Generaldirektorin kennen (Linking).
Sympoiese ist eine Weiterentwicklung des Begriffs der Autopoiese der chilenischen Wissenschaftler Humberto Maturana und Francisco Varela, welcher besagt, dass sich lebendige Wesen dadurch aus zeichnen, dass sie sich selbst am Leben erhalten können und das auch fortwährend tun, ganz im Gegensatz zu Maschinen.
“Wir sind in ständigem molekularem Austausch mit dem, was uns umgibt, allein deshalb ist Trennung schwierig, künstlich und illusorisch.” – Astrid Habiba Kreszmeier
Die Psychologie strebt danach, die Autonomie des Einzelnen zu befördern, die Selbstkräfte des Einzelwesens werden betont. Eine andere Sichtweise wäre, den Fokus auf die ko-kreative Kraft zu legen und somit das sympoietische Selbst zu fördern, im Austausch mit anderen. Dieses entwickelt sich auf der Grundlage der gesammelten Aufmerksamkeit, die dann entstehen kann, wenn die Mutter oder ein anderer nahestehender Erwachsener mit dem Kind zusammen ist und ihm die Welt erklärt.
Für das Intro am ersten Abend bringen alle ihre Bilder und Geschichten zum Thema Kooperation ein, die Sammlung reicht von einem Ammoniten, einem versteinerten Kopffüssler, bis zur Abbildung einer Geburtshelferkröte , dazu gesellen sich das Bild eines Hornissennests, ein handgreifliches Stück Erde mit Pflanzen, ein Plüschhase, die Erzählung vom brasilianischen Brauch der „Mutual“, wenn alle Sippenmitglieder beim Bau des Hauses mithelfen, ein Schirm, das Bild von Pilzen, ein eiförmiger Stein aus der Sitter, Wasser, das in der Blumenvase landet, und vieles andere mehr…
Wer sich angesprochen fühlt durch eine Erzählung oder ein Wort, knüpft an, so werden unsichtbare Bälle gefangen – das sich Aufeinander beziehen spinnt ein verbindendes Netz.
Die Kooperation und ihre sieben Schwestern
Die Idee für das szenische Spiel am Sonntag Vormittag unter der Leitung von Konstanze Thomas und Christian Mulle sieht drei Grundfiguren vor: Mensch, Natur, Kooperation. Noch unter dem Eindruck des gehörten Vortrags über die frühe Menschheitsgeschichte schälen sich jedoch ganz andere Figuren heraus: Die Trauer (über das Überwältigtsein des Weiblichen), das Trennende, die Resonanz, das Schlammloch, der Regen (der an diesem Wochenende unaufhörlich vom Himmel fällt), das Verbindende, der Bruch, die Brücke, der Oktopus, das Vertrauen, der Baum und der Hunger.
Nach dem Spiel werden aus der Innenperspektive der Figuren Eindrücke und Erkenntnisse geschildert, so erlebt jemand als „das Trennende“, dass dieses auch das Verbindende sein kann. Der Regen versiegt im Laufe des Spiels und gruppiert sich zu Baum und Hunger. Auf der anderen Seite des Raums steht die Trauer, nachdem sie einen Schrei losgelassen hat, an ihrer Seite stehen die Resonanz und das Trennende. Das Vertrauen findet seinen Auftrag erfüllt.
Phänomenale Nahrung
In der Mittagspause bilden sich Kochinseln – fünf Gruppen bilden sich um Themen, denen nachgegangen werden will, ich erinnere mich nur an diese drei: „Was führte zu dem Bruch“ – „Was essen wir morgen“ – „Das Trennende ist auch das Verbindende“. Letzteres wird diskutiert im Kreis von fünfen während der Zubereitung von Tagliatelle mit Steinpilzsauce. Ein erster Impuls für das Gespräch ist die Kritik an der übermässigen Nutzung des Smartphones in der irrigen Annahme, dies schaffe Verbindung. Andere Gesprächsergebnisse: Erst wenn der Trennungsschmerz gross genug ist, begeben wir uns neu auf die Suche nach Verbindung. Eine Grenze, entstanden durch den Eisernen Vorhang, ist heute der sogenannte „Iron Curtain Trail“, ein Grünes Band, das den Westen mit dem Osten Europas verbindet.
Über die Mittagszeit findet viel molekulärer Austausch statt… und es zeigen sich Phänomene – Gruppenauflösungen, ein zerbrochener Teller, Fülle von Essen auf der einen Seite: Fleisch-spiesse, die noch Abnehmer suchen, und Knappheit auf der anderen: Reichen die Nudeln für alle? Es wird darin sogar eine Metapher für die Agrarwirtschaft versus voragrarische Kultur gesehen – hier gab es noch Fülle, mit dem Anbau des Weizens tritt die Knappheit auf den Plan und der Mangel.
Berchthold Wasser erwähnt in der Abschlussrunde das Buch von Baptiste Morizot: „Philosophie der Wildnis oder die Kunst, vom Weg abzukommen“ (Originaltitel: „Sur la piste animale“), darin werden absolute Begrifflichkeiten wie „DIE Natur“ hinterfragt. Der Autor bevorzugt das „Draussensein“, das an der frischen Luft sein, oder, um die andere Beziehung und Offenheit der Kommunikation zu kennzeichnen, das „sich einwalden“.
„Man geht in den Wald, und zugleich zieht dieser in uns ein. Sich einzuwalden erfordert keinen Wald im Wortsinne, sondern schlicht eine neuartige Beziehung zu den lebendigen Territorien.“ [1]
„An der frischen Luft zu leben, heisst eben nicht, in der Natur und fern der Zivilisation zu sein, denn sie gibt es ja überall, ausser vielleicht in den Einkaufszentren. Es heisst gerade nicht, sich draussen zu befinden, sondern überall zu Hause zu sein, wo jene lebendigen Territorien sind, die unsere Existenz speisen, und wo jedes Lebewesen sich ins Dasein der anderen Lebewesen einfügt.“ [2]
– Morizot, Baptiste
Genau so ein Territorium ist der Rosenhof in Stein! Aus dem Kreis des Forums trete ich ermutigt und vielfältig genährt heraus, mich danach sehnend, immer wieder neue Kooperationen einzugehen. Apropos, auch das ist ein möglicher Effekt von Trennung:
Es ergeben sich dadurch neue Möglichkeiten der Verbindung.
Und vielleicht mag ja auch dieser Text zur Kooperation anregen – die Lücken aufzufüllen oder zu ergänzen mit anderen Sichtweisen.
Beate Zeller ist selbständig mit Dramaturgie & Pressearbeit in München tätig. Den Natur-Dialog Ansatz hat sie bei nature&healing im Lehrgang Systemische Naturtherapie 2016/2017 kennengelernt, mit dem Masterzyklus 2018/2019 vertieft, und ist seitdem anders unterwegs.
Titelfoto: Beate Zeller / Portraitfoto: Ulrike Riede
Mammutjäger: Zdeněk Burian, mit freundlicher Genehmigung von Hans-Peter Hufenus
CC BY ND Verwendung zu nicht-kommerziellen Zwecken erlaubt, solange dies ohne Veränderungen und vollständig geschieht und der Urheber genannt wird.
Edite do Carmo, Teilnehmerin am Forum 2020 hat im Blog von “Atelier feitio” weiterführende Gedanken zu Autonomie und Konsens veröffentlicht.
Auf portugiesisch https://feitio.ch/pt/natureza-cooperacao-e-consenso/
Oder auf deutsch https://feitio.ch/natur-kooperation-und-konsens/