Lernen heisst Mit-Anwesend-Sein
Hypothesen über die Einschränkungen digitaler Kommunikation.
Im Juni haben Astrid Habiba Kreszmeier und Konstanze Thomas mit ihrem “Positionspapier für situiert-leibliche Bildungsräume” zum Diskurs über Lern- und Begleitungssettings angeregt. Dieser bleibt wichtig und aktuell, dass zeigen auch Reaktionen, Kommentare und Diskussionen die rund um ihr Argumentarium entstanden sind. In dieser Folge fasst Siegfried Molan-Grinner seine Erfahrungen im digitalen Distanzraum zusammen.
Beobachtungen und Effekte aus einer Anzahl von Selbstversuchen über Videochats Meetings, Lehrveranstaltungen, Beratungsgespräche, Coachings und Psychotherapie abzuhalten:
• Kommunikation über Videochats sind monologisch (im Gegensatz zu dialogisch), da aus technischen Gründen immer nur eine Person reden kann. Bei gleichzeitigen digitalen Kommunikationsbeiträgen versteht man nichts mehr.
• Zusätzlich sind digitale Monologe asynchron, da die Kommunikations-Beiträge wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht sind und es dadurch wenige bis gar keine Synchronisationsmomente geben kann.
• Daraus folgt, dass ein kreatives Entwickeln gemeinsamer neuer Ideen, die ein spontanes und individuelles Eingehen auf Kommunikations-Beiträge verlangen würde, unmöglich erscheint.
• Im Gegenteil, es entsteht bei Meetingteilnehmer*innen Frustration, wenn man spontan einen Beitrag einbringen will, aber die Meeting-Regel verlangt, abzuwarten, bis sich ein zugewiesener Slot ergibt.
• Videochats sind räumlich unsystemisch. Da ich nicht sicher weiss, wer sich lokal im Raum oder im Nebenraum meines Kommunikationspartners aufhält, diese*r aber aus systemischer Sicht „dazugehört“, habe ich nicht erkennbare Systemmitglieder, von denen ich nicht erkenne, welchen Einfluss (was auch immer der sein könnte) diese haben.
• Videochats reduzieren sich auf einen (kleinen) Bild-Ausschnitt der*des Kommunikationspartner*innen, der Grossteil des Körpers ist nicht sichtbar. Was zur Folge hat, dass ich körpersprachlich nur einen kleinen Teil bewusst und unbewusst interpretieren kann, wodurch wertvolle Informationen nicht verfügbar sind.
• ¾ der Informationen, die bei physischer Kommunikation zur Verfügung stehen, sind nicht abrufbar.
Im Bild ist die Begeisterung förmlich übersprudelnd, im Distance-Learning via Zoom wären in diesem Beispiel nur noch die Stirnlampen zu sehen.
• Abgeleitet dazu ist im Vergleich zu einem physischen Begegnen eine erheblich eingeschränkte Beziehungsarbeit möglich. Nicht umsonst scheint der von Watzlawick postulierte Anteil der Beziehungsaspekte menschlicher Kommunikation bei 80 % zu sein. Ein Grossteil fällt bei Video-Kommunikation weg.
• Es findet eine deutliche Reduktion von unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen statt (kein Riechen und Schmecken, kein körperliches Spüren, keine leibliche Resonanz-Erfahrung).
• Auch der Blickkontakt ist nicht synchron, da die Blickachsen unterschiedlich sind, weil die Kamera in der Regel nicht von dem Punkt aufnimmt, wohin ich am Bildschirm hinsehe, um meine*n Gesprächspartner*in wahrzunehmen.
• Räumliche analoge Ressourcen fallen weg (z. B. Bilder, Kunstobjekte, Blumen, ein warmer Teppichboden, ein kuscheliger Sessel, ein Glas kaltes Wasser).
• Reduziertes Tonerlebnis durch digitalen Ton: ein physisch Live erlebter Ton von sprachlichen Äusserungen ist „voluminöser“, der Klang „voller“ hör- und wahrnehmbar, weil ein analoges Tonsignal Spannung und Frequenz hat (ein digitales nur ein binäres 0 oder 1).
• Konflikte können schwer gelöst werden, wenn sie denn überhaupt von Meetingteilnehmer*innen erkannt (beobachtet) und dann auch passend artikuliert werden können. Es braucht eine erfahrene und (gruppendynamisch) reife Gruppe, um mit Konflikten umgehen zu können.
Dr. Siegfried Molan-Grinner, selbständig als Berater, Trainer, Coach und systemischer Psychotherapeut. Vom technischen Nutzer der Natur als staatlich geprüfter Rafting-Guide weiterentwickelt hin zum analogen Lernbegleiter in der mehr als menschlichen Welt.
Titelbild: Hans-Peter Hufenus
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Liebe Astrid, lieber Siegi
Wir haben euch und eure Stimmen vermisst heute am zweimonatlich stattfindenden Zoom-Austauschtreffen der ND-Bewegung*. In der Runde sind wir ebenfalls ins Thema digitale Kommunikation eingestiegen. Die Zoomer*innen fanden es wichtig, dass ein vielstimmiger Dialog zum Thema stattfindet. Schön, dass das hier geschieht und die Kommentarfunktion des Magazins belebt wird. Ich freue mich auf die weiteren Beiträge!
* Die Zooms finden jeweils am ersten Sonntag alle zwei Monate statt und sind im Kalender aufgeschaltet – inkl. Link zum einloggen. Nächstes Zoom Treffen ist am 6. Dezember. Herzlich willkommen!
Liebe Astrid. Lieber Siegi. Schön, dass hier Austausch stattfindet. Aus meiner Sicht durchaus dialogisch, den in diesem Raum zwischen Euch entstehen zB für mich als Dritte neue Überlegungen, die mir vorher so nicht zugänglich waren. Im Natur-Dialog Ansatz verstehen wir den Begriff ja auch als dieses “Dazwischen”: ” Oft wird Dialog als ein Gespräch unter zweien verstanden. Offenbar weil schon früh das griechische “Diá” mit dem “Dyo” verwechselt wurde. Diá meint ursprünglich durch, hindurch, auseinander, zwischen und der Dialog ist ein Fliessen von Sprache, ein Unterscheiden von Bedeutungen in einem Raum, der zwischen Menschen oder zwischen Menschen und der Welt entsteht.” (vgl. Broschüre NATUR DIALOG, Einführung August 2019, nature&healing).
Ich selbst habe bisher wenige dialogische Erfahrungen via Zoom & Co gemacht, ich glaube vor allem fehlt mir dafür der physische Raum. Die Akustik meines eigenen Sprechens, die verzögerte Wahrnehmung von visuellen und auditiven Signalen des Gegenübers, da ist vieles anders. Gerade habe ich die Idee, dass eben dieser wichtige “Raum zwischen den gesprochenen Wörter” vielleicht sogar als ausgelagert gesehen werden kann, das Dazwischen spielt sich quasi an einem externen Server ab und den digitalen Wegen zwischen mir und dir und dem Tool ab. Dadurch ist es nicht mehr ein zwischen mir und der oder den anderen Personen, sondern das Gespräch findet in Umleitung über diesen entlegenen Ort statt.
Hier im Natur-Dialog Magazin freue ich mich auch über Diskurs sein, das wäre sogar eine Absicht (Diskurs von lateinisch discursus ‚Umherlaufen‘ – wurde ursprünglich in der Bedeutung „erörternder Vortrag“ oder „hin und her gehendes Gespräch“ verwendet. Vgl. Wikipedia). Astrid in welchen Praxisfeldern finden Deine Erfahrungen statt? Welchen Widerspruch regt es noch und welche Hypothesen magst Du erweiternd einbringen?
Ich fühle mich sehr angeregt durch den Artikel. Vielen Dank dafür. Es sind vorallem kritischen Einwände, die sich mir zeigen. Sie sind vielseitig und könnte jeden Punkt der verschiedenen Hypothese anreichern und vielleicht herausfordern. Ich möchte nur ein Beispiel anbringen und zwar auf die Behauptung, Videochats seien monologisch, nicht dialogisch, weil immer nur eine Person redet. Ich frage mich, welches Verständnis von Dialog dieser Aussage zugrunde liegt. Dialog nach Bohm u.a. besagt, dass es genau darum geht, dass mmer nur eine Person redet und die anderen zuhören und in Resonanz sind. Der Dialog sucht genau diesen Raum zwischen den gesprochenen Wörtern.
Liebe Astrid!
Danke für Deinen Kommentar und für den Verweis auf Bohm, kenne ich noch nicht (wie heißt bitte das Buch?). Ich habe ein Forschungsprojekt geleitet für die lasf in Wien, in dem wir als Forschergruppe das Reflecting Team (RT) nach Tom Andersen untersucht haben und deren Wirkungsweise im Rahmen von AST (Ambulante Systemische Therapie). Ein Analyse-Kriterium war, ob die Kommunikationsbeiträge des RT dialogisch oder eher monologisch waren? (es waren durchwegs monologische Beiträge).
Bei Interesse: https://www.lasf.at/wp-content/uploads/2016/03/Artikel_AST_Studie_II_in_den_Systemischen_Notizen_0417_.pdf.pdf
Als dialogische Kommunikation definierten wir Kommunikationsbeiträge, die sich inhaltlich eindeutig aufeinander bezogen, kurze Statements waren (maximal 30 Sekunden pro Statement), in einer RT-Sequenz mindestens 4 abwechselnde Statements vorkommen sollten und eine Paraphrasierung der Statements des*der anderen Person aufwies. Sobald eine dialogische Phase beobachtet wurde, „schlug“ diese eine monologische Phase. Zustimmung wie z.B. “ja genau” war für uns kein Statement, sondern es musste eine inhaltliche Aussage sein.
Das geht auch digital, das stimmt. Was aber kaum bis gar nicht in einer digitalen Konversation geht, ist ein „moduliertes Aktives Zuhören“, also den Einsatz von sprachlichen Lauten wie „hms, ahs, genau,…“, denn dann hört man sich ja wieder nicht (was telefonisch geht, außer es ist eine Satellitenverbindung). Und ein Dialog lebt auch dadurch, dass ich alle Sinneseindrücke in meine Informationsverarbeitung einbeziehen kann, was mit 3/4 weniger Sinneseindrücken nicht wirklich geht.
Liebe Grüße, Siegi
Hallo Sigi,
vielen Dank für den Einblick in deine Forschungsarbeit. Spannende Arbeit!
Ich bin in den Theorien des Sozialen Konstruktionismus beheimatet (Gergen & Gergen, McNamee), fühle mich in der Philosophie bspw. von Merleau-Ponty und von indigenen Weltsichten, wie der Khomani San in Südafrika verstanden. Ich arbeite mit den Kommunikationstheorien von Pearce (CMM coordinated management of meaning) oder Synlogisation von Jürgen Kriz. Das Buch von David Bohm heisst “Der Dialog”. Über David Bohm gibt es auch einen sehr spannenden Film.