Der Grenzhund wacht über die Schwelle…
Das Choreografenatelier 2020/21, eine Veranstaltung der Münchner Künstler*innenvereinigung Tanztendenz, lädt zu einem transdisziplinären Streifzug durch Denkfiguren rund um den Begriff der „Grenze“ ein.
Das Motiv der gefletschten Zähne wirkt sofort und unmittelbar – und erinnert mich an eines meiner ersten Erlebnisse am Rosenhof in Stein/AR, dem Sitz von „nature&healing“. Oberhalb des Hauses an der Strassenbiegung muss man an einem Bauernhof vorbei, um in den Wald zu gelangen – dort steht der HUND (nicht der auf dem Bild) und bellt schon, wenn er einen von weitem hört und schliesslich auch sieht. Er verteidigt sein Revier. „Als aufmerksamer Wächter bellt der Appenzeller Sennenhund gern und lautstark“, steht als Charakteristikum seiner Art im Internet. Dieses Auftreten liess mich damals tatsächlich umkehren…
Titelbild zum 6. Internationalen Choreografenatelier der Tanztendenz München
„Bisschen krasses Bild … ist so drastisch gewollt …?“ schreibt einer der Referenten, der bei der Vortragsreihe des Choreografenateliers der Tanztendenz München zum Thema GRENZEN sprechen wird. Also wirkt er sogar als Bild, der Hund, der eine Grenze markiert, und als Wächter der Schwelle uns als hütende Kraft noch einmal innehalten lässt und das Vorhaben, bzw. den unbedingten Willen zum selben prüft.
Wie schnell stossen wir an Grenzen, wie wichtig sind sie, warum überhaupt Grenzen? Je länger ich mich mit dem Thema beschäftige, desto weiter wird es. Allein einen Abriss der Beiträge aus dem Choreografenatelier dazu verständlich zu komprimieren, ist ein zu hoch gestecktes Ziel – mir genügt es für diesen Text, einige Aspekte herauszugreifen und eine Brücke zum Natur-Dialog zu schlagen, da einiges anklang, das mir vertraut vorkam.
Die vier Vorträge der Veranstaltung vom letzten Herbst und das philosophische Gespräch – sie sind auf dem YouTube-Kanal der Tanztendenz nachzuhören – markieren kontroverse Positionen:
Der Psychoanalytiker Günter Lempa betont die Wichtigkeit von Grenzen in der individuellen Entwicklung, angefangen bei der Trennung von der Mutter zur Ausbildung des Kernselbst, dann innerhalb der Familie zwischen den Generationen. Bei einem gelungenen Grenzmanagement geben Grenzen Halt und Orientierung.
Keine Identität ohne Differenz bzw. Einhegung, so argumentiert auch Thomas Dörfler aus der Sicht der Humangeographie. Die Ästhetikprofessorin Michaela Ott hingegen spricht von Grenzverwischungen und der nicht klaren Grenzziehungsmöglichkeit zwischen dem menschlichen Körper und dessen Umgebung.
Der Organismus erzeugt selbständig die Grenzen, er gestaltet seine innere und äussere Umgebung selbst. Die Plastizität von lebenden Wesen geht sogar soweit, dass sie ihre Gene selbst umbauen können. So erörtern das die beiden Biophilosophen Spyridon Koutroufinis und René Pikarski in ihrem interessanten Gespräch über „Die Grenze als kreativer Prozess“. Koutroufinis konstatiert „Alles was lebt, erlebt“ und hebt hervor, wie relevant Erlebensakte für die Ontogenese, also die Entwicklung des Einzelwesens sind. Wobei jeder Organismus selbst festlegt, was von der Umgebung wichtig für ihn ist.
Jakob Johann von Uexküll führte erstmals den Begriff der Umwelt ein: „Die Umwelt ist die bedeutungsvolle Umgebung des Organismus.“
Wo fange ich an und wo höre ich auf
Der menschliche Körper wird von der Humanbiologie entgrenzt, er wird als komplexes biosoziales Netzwerk mit Billionen von molekularen Mitbewohnern bestimmt; in einem Menschen, der aus 10 Billionen Zellen besteht, sollen sich in etwa 10 x so viele Bakterien befinden. Heute wird die Lebensgemeinschaft des Menschen mit den Mikroorganismen und ihren Genen Mikrobiom genannt. So zitiert Michaela Ott auch Donna J. Haraway, wir enden oder beginnen nicht an der Haut, es ist eine epistemische Schwierigkeit, die Grenzen des Organischen zu bestimmen.
„Gerade die Haut verdeutlicht, dass Organismen keine selbstorganisierenden Entitäten, sondern in Teilhabegeflechte eingelassen sind, in denen sie durch vielfältige Faktoren mitmodelliert werden, und diese ihrerseits mitmodellieren.“
Es gilt, das Selbst offen zu halten und Revidierbarkeit zuzulassen. Die Medizinisierung der Gesellschaft, so argumentiert Michel Foucault in „Die Geburt der Klinik“, führt dazu, dass der menschliche Körper ein Kontrollobjekt wurde. Mit der versuchten Beherrschung des Lebendigen wird die Selbstregulation verhindert. Einiges davon tönt mir vertraut und bekommt so noch mal eine theoretische Untermauerung aus unterschiedlichen Disziplinen.
Die Formel der „Hinwendung zur Gegenwart“, für die der Karl-Jaspers-Professor in Heidelberg Thomas Fuchs in seinem Vortrag „Die Corona-Pandemie als kollektive Grenzsituation“ plädiert, erinnert mich an mein erstes Schnupperseminar der Systemischen Naturtherapie mit dem Titel „Die Magie der Gegenwart“. Thomas Fuchs – er ist nicht nur Psychiater, sondern auch Phänomenologe – spricht von der Unverfügbarkeit des Körpers, und vom Vertrauen als der Kraft, die uns zum Ungewissen hinzieht. Das Ungewisse selbst sei das Leben. Es gelte, unsere Haltung gegenüber der Zukunft zu überdenken – von der Wortbedeutung AVENIR – das Herankommen, die Ankunft, das, was uns begegnet, überrascht, was unsere Grundannahmen in Frage stellt.
Im Natur-Dialog Ansatz oder der Naturtherapie ist die Möglichkeit, sich selber zu überschreiten, das Gewordensein zu verändern oder verflüssigen und eine neue Haltung gegenüber der Welt gewinnen zu können, ein zentrales Moment.
„(…) Vertrauen bedeutet, dass wir uns in andere Hände begeben; dass wir nicht alles kontrollieren und beherrschen wollen. Es bedeutet, anderen, der Welt oder dem Leben selbst, die Freiheit zu geben, uns so zu begegnen, wie sie es wünschen; es bedeutet, zuzulassen, dass wir überrascht werden, dass wir in Frage gestellt werden. Es steht ausser Frage, dass ein Leben des Vertrauens unsicherer, offener und scheinbar verletzlicher ist als ein Leben der vollständigen Kontrolle. Aber aus Vertrauen erwächst eine innere Stärke, die letztlich grösser und wirksamer ist als ein Gehäuse trügerischer äusserer Sicherheiten. Vertrauen ist eine Kraft, die in uns wohnt und die uns nicht nur befähigt, mit dem Ungewissen umzugehen, sondern uns auch zu ihm hinzieht, denn das Ungewisse, das Unerwartete, die Überraschung ist letztlich der einzige Ort, an dem wir uns wirklich entwickeln können. Versuchen wir also, mit Ungewissheit zu leben; denn das Ungewisse ist das Leben, und nur im Leben selbst können wir wachsen und reifen.“ (Thomas Fuchs)
Dies sind nur einige Ideen aus den dichten Texten der Referent*innen, zur Verfügung gestellt im Videokanal der Tanztendenz München.
Hier eine Übersicht der Titel und Personen:
Thomas Fuchs (Phänomenologie und Psychiatrie): „Die Corona-Pandemie als kollektive Grenzsituation“ //
Michaela Ott (Individualismuskritik): “Grenzverwischungen im bio- und soziotechnologischen Bereich” //
Spyridon Koutroufinis / René Pikarski (Biophilosophie): „Die Grenze als kreativer Prozess“ Ein Gespräch zwischen Athen und Berlin //
Günter Lempa (Psychoanalyse): „Grenzen überwinden – Grenzen schützen? Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht“ //
Thomas Dörfler (Human – und Kulturgeographie): „Die Dialektik der Grenze: Notwendigkeiten und Irrationalitäten kultureller Einhegung“
Beate Zeller ist selbständig mit Dramaturgie & Pressearbeit in München tätig. Den Natur-Dialog Ansatz hat sie bei nature&healing im Lehrgang Systemische Naturtherapie 2016/2017 kennengelernt, mit dem Masterzyklus 2018/2019 vertieft, und ist seitdem anders unterwegs.
Foto Hund: Jonathan Kim / getty images mit freundlicher Genehmigung von Tanztendenz München
Portrait Beate Zeller: Ulrike Riede
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