Von Gärten und Geschichten
Kürzlich habe ich in einem Blogbeitrag von Begegnungen mit Bäumen und Kräutern und von meiner Liebe zum Wald erzählt. «Nun driftest du aber völlig ins Esoterische ab.» Und: «du wirst langsam ein wenig gschpürig», erreichten mich darauf Stimmen aus ernsten, vielleicht sogar etwas besorgten Gesichtern meines Umfelds. Die Befürchtung, dass ich esoterisch oder gschpürig werde, begleitet mich schon eine Weile. Sie wird lauter, wenn ich über meine Begeisterung für natur-dialogische Weltwahrnehmung spreche. Befürchtet wird etwas schwer Erklärbares, Diffuses, etwas, das suspekt, ja vielleicht sogar ein bisschen lächerlich ist und im Wertkontrast steht zu dem, was Gültigkeit hat, sprich beweisbar, also wissenschaftlich ist.
Gartenanlagen und Orchideenfächer
Nicht wissenschaftlich genug zu sein, diese Aussage ist mir schon länger vertraut. Bei meiner früheren Arbeit als Forscherin war ein wissenschaftliches Gärtchen vom anderen abgegrenzt. Während die Gartenanlage der exakten Wissenschaften breite Aufmerksamkeit und umfassende Mittel zur Bewirtschaftung erhielt, wucherte in den Gärten der Geistes- und Kulturwissenschaften, in denen ich arbeitete, allerhand Wundersames, das als exotisch angesehen wurde. Obwohl uns Gärtner*innen der Orchideenfächer[*] oft Fragen zur Nützlichkeit unserer Arbeit gestellt wurden, genoss sie durch ihre Einbettung in die universitäre Landschaft eine gewisse Legitimität. Heute forsche ich ausserhalb der universitären Landschaft und bin begeistert von den Gebieten, die mir begegnen. Die Zuschreibung, esoterisch oder gschpürig zu werden und die damit verbundene Wertung erscheint mir dabei bedeutsam. Nicht unbedingt deshalb, weil ich mich frage, ob ich tatsächlich esoterisch oder gschpürig werde. Auch nicht, weil mich interessieren würde, was Esoterik wirklich bedeutet. Was mir bedeutsam erscheint, ist, auf welchem Repertoire von Geschichten diese Zuschreibungen wachsen. Auf welchen Ordnungen der Wahrnehmung sie wurzeln und welche sie kontrastieren.
Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Wahrgebung in der Illustration des Selbst- und Weltverständnisses eines mittelalterlichen Gelehrten. (Illustration aus L’atmosphère. Météorologie populaire von Camille Flammarion)
Viel(ge)schichtige Selbst- und Weltverständnisse
Als Forscherin habe ich gelernt, dass sich unsere Welt- und Selbstverständnisse nicht im Vakuum bilden, sondern abhängig sind von den Beziehungen, in denen wir leben, in denen wir uns verstehen und von anderen verstanden werden. Eine Identität ist eine viel(ge)schichtige Angelegenheit, die in stetem Wandel begriffen ist. Sie wird genährt von Geschichten, die wir über uns erzählen und von Geschichten, die uns erzählen. Unsere Identität formt sich in den Kontexten, in die wir zeit-räumlich eingewoben sind. Und, es gibt Geschichten, die in gewissen zeit-räumlichen Kontexten kollektive Identität formen. Eine dieser Geschichten wurde innerhalb der universitären Landschaft so erzählt:
Als der Mensch dank der Aufklärung begann, vernünftig in der Welt zu wirken, verschrieb er sich einem rational gelenkten Prozess, den er Fortschritt nannte. Der Mensch war fortan nicht mehr der arme Sünder, der schuldige Büsser, der sich durch gottgefälliges Verhalten und materiellen Ablass ein Ticket ins Jenseits kaufen musste. Seine Vernunft machte den Menschen frei, und er bekam eine Spitzenposition unter den lebendigen Kreaturen. Und zwar nicht mehr, weil Gott es so gewollt hatte, sondern, weil er sich auf seinen Verstand besann, der ihn dazu ermächtigte, ganz oben auf der Pyramide zu stehen.
Veranderung und Dynamiken der Macht
Von den Orchideengärtner*innen wurde meine Wahrnehmung dahin gelenkt, dass die westeuropäische Geschichte gerne als Fortschrittsgeschichte erzählt wird, als vorgestellte Wachstumskurve, entlang derer sich der Mensch entwickelt hat: vom irrationalen Wilden, vom triebhaften Körperwesen und sündigen Büsser, zum aufgeklärten, rational denkenden Kopf. Sie lehrten mich, in dieser Geschichte die Dynamiken der Macht und damit verbundene Prozesse der Veranderung[*] zu erkennen, die vor allem den weissen Mann dazu legitimierten, aufgrund dieser Wachstumskurve das Weltgeschehen zu lenken. Es ist genau jene, unser westeuropäisches Selbstverständnis prägende, phallische Vorstellung eines ewigen Höher-Schneller-Weiters, die uns immer stärker an Grenzen stossen lässt. Mir wurde bewusst, wie uns das Kapitalozän in einem scheinbar ausweglosen Wachstumsprozess gefangen hält. Und, dass wir im Würgegriff unseres von Steigerungslogik geprägten Zeitalters blind nach der Anhäufung von Besitztum und der Optimierung unserer Selbste streben. Dabei entlarvten diese Gärtner*innen unsere Hörigkeit dem Fortschritt gegenüber als Treiber für die Zerstörung unsere Lebensgrundlage.
Entwicklung ent-wickeln
Wem diese Geschichte anklingt, wächst das Bewusstsein dafür, dass es Zeit ist, das unheilsame Heilsversprechen der Entwicklung zu ent-wickeln. Enthusiastisch und voller Tatendrang habe ich mein frisch spriessendes Bewusstsein durch die Gärten getragen und nach Ent-wicklungsmöglichkeiten gefragt. Aber die Antworten der Gärtner*innen liessen mich zunehmend ratlos. Und schliesslich bin ich ernüchtert aus der universitären Landschaft ausgezogen.
Im Garten, in dem ich angekommen bin, werden Geschichten der Verbundenheit erzählt: zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, zwischen Körper und Geist. In diesen Geschichten handeln Menschen nicht in Konkurrenz, sondern partnerschaftlich. Gebannt höre ich zu und erfahre, dass Böden, Wälder, Wasser, Tiere und Pflanzen, ja sogar Feuer und Steine nicht Ressourcen, sondern Partner*innen sind. Neue Forschungsfelder öffnen sich weit für mich, als ich zu erahnen beginne, was diese Partnerschaften bedeuten und was geschehen könnte, wenn die Bedürfnisse in dieser Kooperation ernsthaft und weiträumig gehört würden. In mir jubelt es, wenn ich diese Möglichkeiten nur erahne.
Ein Stein ins Rollen bringen
Wenn diese Erzählungen mit der Zuschreibung esoterisch abgewertet werden, bin ich betroffen, weil sich damit die Tür zu einer Mitwelt schliesst, die nicht nur weit über den weissen Mann, sondern über uns als Menschen hinausführt. Ich möchte die Tür aufstossen und von der Schwelle in die angrenzenden Gärten rufen, dass es okay ist, reinzuschauen, ja, dass sogar Albert Einstein gesagt hat, dass, «wenn du ein wirklicher Wissenschaftler werden willst, denke wenigstens eine halbe Stunde am Tag das Gegenteil von dem, was deine Kollegen denken.» Ich möchte in der Logik der Forschung argumentieren, die ich gut kenne, und schlaumeierisch in die Welt posaunen, dass, wenn unser Selbst- und Weltverständnis tatsächlich davon genährt wird, wie wir uns selbst und die Welt erzählen, dass dann eine partnerschaftliche Welt möglich ist. Ich möchte zu bedenken geben, dass, wenn wir diese Geschichte nicht erzählen, ja sie uns nicht einmal vorstellen mögen, weil wir sie zu naiv, esoterisch, gschpürig und unrealistisch finden, dass dies nicht einfach nur eine Offenbarung unseres Selbstverständnisses ist. Nein, dass es bedeutet, dass wir dazu beitragen, ein Selbst- und Weltverständnis aufrecht zu erhalten, das unsere Mitwelt und uns selbst zerstört. Ich möchte dazu verführen, nur für einen kurzen Moment und wenn nötig sogar mit Einsteins Segen, dem nachzuspüren, wie es anders sein könnte und dabei erfahren und erfahrbar werden lassen, welche Geschichten uns dann ent-wickeln.

Sabina Fischer ist als Forscherin und Prozessbegleiterin fasziniert von den Geschichten, die das Leben spinnt. Sie beschäftigt sich mit Ethiken der Aufmerksamkeit und engagiert sich für vielstimmig-tragende Kooperationen. Infos unter www.sabinafischer.ch
Illustration: Der Wanderer am Weltenrand ist das Werk eines unbekannten Künstlers, erschien erstmals 1888 in L’atmosphère. Météorologie populaire von Camille Flammarion.

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