Forschtritt und Zauberei
«Wie die Welt von Morgen aussehen wird, hängt in grossem Mass von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.» Pippi
(Lehrplan 22, S. 83; Originalzitat Astrid Lindgren/Anmerk. d. Red.)
Forsch hinaustreten in die Welt… (Foto: Sinha Weninger)
Die Verluste, die uns Schule und Studium im Zoom bescheren sind augenscheinlich. Vieles, was durch die Reformpädagogik langsam Sicherheit gewann in den Lehrplänen, scheint vergessen, bzw. in eine neue, alte Form zurückgeflossen: körperlose Didaktik versus Kopf-Herz-Hand, Monologkultur versus Lehrdialoge, Vereinzelung versus Lerngemeinschaft, Referat versus Projekt, Zuhörlernen versus Erfahrungs- und Handlungslernen, kurz: gut voneinander abgegrenzte, digitale Fenster versus offene, analoge Räume. Und die Natur? Nicht mehr vorhanden im öffentlichen Bildungsgespräch, inzwischen doppelt ausgesperrt: Durch die Mauer rund ums Haus und den Blick in den Computer statt aus dem Fenster.
Soweit so schlecht. Die Lehrer*innen und Dozierenden, die ich kenne, haben unterschiedliche Taktiken damit zugehen: Einzelne nehmen es einfach hin und hoffen nach wie vor, dass es bald wieder wird wie damals vor 2020. Andere versuchen, auch im Zoom ihren didaktischen Ansprüchen an die Lernatmosphäre treu zu bleiben, sie reiben sich auf und regen sich auf, sind mehrheitlich unzufrieden und allmählich auch müde. Wieder andere steuern von Beginn an dagegen, melden sich zu Wort, widersprechen und erreichen im Moment dennoch nicht viel. In so einer Stimmung ist der Frühling noch willkommener als sonst.
Gern möchte ich hier einen didaktischen Frühblüher vorstellen, die mir vor ein paar Wochen begegnet ist: Der Lehrplan 22.
«Oje, schon wieder so ein Lehrplan», werden jetzt einige Lesende denken. Bitte, noch kurz dabeibleiben, denn es ist nicht so, wie es klingt. Dieses Konzept ist das Ergebnis eines Kulturprojekts und er hat nur so einen schulmeisterlichen Namen, weil er sich auf seinen Vorgänger bezieht, den Lehrplan 21. Dieser wurde von der Deutschschweizer Erziehungsdirektion für die Grundschulen entwickelt und enthält 2300 zu erwerbende Kompetenzen. Er vollzieht einen Wandel von Wissen zu Fähigkeiten, lässt aber «die Schule im Dorf», das Leistungsprinzip im Zentrum, erhält die bestehenden Hierarchien und den althergebrachten Fächerkanon. «Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Lehrplan mit jeweils 10 Jahren Verspätung daherkommt», heisst es im Einführungstext des hier beschriebenen Lehrplans. «Nach dem langen Weg durch die Maschinerie der Administration ist es denn wenig verwunderlich, wenn er bei der Umsetzung bereits ein bisschen von gestern ist. In diesem Sinne scheint eine unmittelbare Neubearbeitung durchaus angebracht.» (Lehrplan 22, S. 9)
Hier werden Lernatmosphären (Lumos) beschrieben, Grundprinzipien, die zum Selberdenken befähigen, zum gesellschaftlichen Mitwirken motivieren…
Der Performance-Künstler Martin Schick initiierte 2019 eine «Neue Bildungsdirektorinnen-Konferenz» bestehend aus Schüler*innen der 3. und 4. Klassen eines Zürcher Schulhauses und einer Reihe Querdenker*innen. Sie erarbeiteten diese frische didaktische Ergänzung, den Lehrplan 22, der einige grundlegende Veränderungen vorschlägt. Er ist ein Gemeinschaftswerk von Menschen, die unmittelbar Beteiligte sind. Zentral ist dabei sicher der Wechsel vom Fokus auf das Ziel (sei es nun Wissen oder eine Kompetenz) hin zum Prozess oder vielmehr zu Raum und Zeit. Hier werden Lernatmosphären («Lumos» genannt) beschrieben, fast sogar Haltungen oder Grundprinzipien, die zum Selberdenken befähigen, zum gesellschaftlichen Mitwirken motivieren, aktuelle globale Herausforderungen in den Augenschein nehmen und bestimmt Freude machen. Zumindest liest sich das Werk mit Vergnügen und so mancher wird wohl melancholisch in die eigene Grundschulzeit zurückdenken und sich wünschen, dass auch nur ein Teil vom hier Zusammengetragenen einem damals selbst widerfahren wäre. Um die Neugier zu wecken, hier ein Überblick über die Lumos: 1 Lernen Lernen, 2 Zusammenspiel, 3 Eigensinn, 4 Säumen, 5 Forschtritt (Fortschritt durch Fehler), 6 Zauberei, 7 Über Leben, 8 Mischieren, 9 Pause, 10 Orientieren, 11 Kosmik, 11,5 Entlernen.
Der Lehrplan 22 basiert nicht auf dem Natur-Dialog Ansatz, vermutlich war dieser den Mitwirkenden auch nicht bekannt. Umso mehr beeindruckt an einigen Stellen die Nähe. Im Lumos 11 heisst es zum Beispiel: «Wir leben in einer Welt, in der wir Menschen im Zentrum stehen bzw. in der wir Menschen uns ins Zentrum gestellt haben. Unser Verhältnis zur Natur ist immer ein dominantes Verhältnis, sei es zur Besiedlung, zur Ressourcen-Gewinnung, in der Landwirtschaft oder sei es in Sachen Erholung oder selbst im Naturschutz und im Umgang mit Naturkatastrophen… Es ist immer vom Menschen ausgedacht. Abgesehen davon, was man über die nicht-menschliche Welt lernen kann, stellt sich die Frage: Was und wie können wir von Pflanzen und Tieren lernen? Wie können wir das Aussermenschliche respektieren als eine Einheit, die uns nicht einfach gehört? Und wie können wir seine Autonomie bewahren?» (Lehrplan 22, S. 128)
Im Lumos «Kosmik» wird vorgeschlagen: «Such Dir Deinen Baum in der Stadt, im Park, im Wald. Werde Freund*in von dem Baum, versuche, Dir Dinge erzählen zu lassen, sei ganz aufmerksam. Gib auch etwas zurück».
Jedes dieser Prinzipien hat eine Leitfrage bzw. Themenfokus, es folgen kurze Erläuterungen und methodische Hinweise, wie man diese Fragen konkret angehen könnte. Nicht, um sie zu lösen, sondern mehr, um diese Themen als eine Art Handlungsorientierung im didaktischen Blick zu behalten. Im Lumos «Kosmik» wird zum Beispiel vorgeschlagen: «Such Dir Deinen Baum in der Stadt, im Park, im Wald. Werde Freund*in von dem Baum, versuche, Dir Dinge erzählen zu lassen, sei ganz aufmerksam. Gib auch etwas zurück». Am Ende jedes Lumos-Kapitels stehen unter dem Titel «Check Check» Evaluationsfragen, um sich in Bezug auf den eigenen Lernfortschritt zu orientieren . Im hier beschriebenen Beispiel sind das folgende zwei:
- Ich stehe nicht unbedingt im Zentrum.
- Ich bin auch dem Nicht-Menschlichen verpflichtet und lerne im regen Austausch.
Solche Stimmen sollten vielfach gelesen werden, weshalb es mir wichtig erscheint, sie zu teilen. Über das Wissen voneinander und einander Nennen lassen sich auch Inseln bilden die wachsen können, gleich einem Krokusfeld. Und genau genommen bietet der Lehrplan 22 didaktische Orientierung für alle die lehren, ganz unabhängig ob nun Kinder oder Erwachsene. Vor allem ist er auch für jene interessant, die nach wie vor Lernende sind und sich gern inspirieren lassen, die Welt anders zu denken.
Neue Bildungsdirektorinnen Konferenz NB-K (2019): Lehrplan 22. Kinder denken Schule neu.
Konstanze Thomas ist Erwachsenenbildnerin und Mitinitiantin der Natur-Dialog Bewegung. Sie ist Makota in der terrasagrada, Schneiderin und Reisende.
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