Vom Umgehen mit Widerstand
Der Weg des geringsten Widerstandes. Das ist der Weg, den sich das Natürliche sucht, sagt Fotografin und Architektin Gabriela Torres Ruiz. «Das Wasser zum Beispiel. Es fliesst in einen Raum und füllt ihn ganz aus. Sobald es eine Öffnung findet, fliesst es hinaus. Es fliesst seinen Weg.» Im Flow sein. Flow sein.
Ich bin durch einen Beitrag im Emergence Magazin auf Gabrielas Bilder aufmerksam geworden. Die Bilder haben mich auf eine Art berührt, die mich immer wieder zu ihnen zurückkehren liess. Sie sprechen eine geheimnisvolle Sprache. Einem Impuls folgend, habe ich irgendwann der Fotografin davon geschrieben, wie ihre Bilder auf mich wirken.
Und so kommt es, dass ich mit Gabriela einen Zoom-Raum teile und sie mir von ihrer Arbeit erzählt. Der Weg des geringsten Widerstandes. So heisst die Bilderserie und das Projekt, an dem Gabriela aktuell arbeitet. Daraus entsteht eine Ausstellung, die vom 9. September bis 2. Oktober 2021 im Kunstquartier-Bethanien in Berlin zu sehen ist.
Die Architektur des Fliessenden
Wie kann Kunst dazu beitragen, dass Natur in ihrer Vielschichtigkeit wahrgenommen wird? Und: Wie kann sie Wahrnehmung, Sensibilität und Empathie für andere Formen des Lebens sowie Bewusstsein für ein harmonisches Gleichgewicht zwischen menschlicher Existenz und natürlicher Welt fördern? Mit diesen leitenden Fragen setzt sich Gabriela auseinander. Dabei liess sie sich von Adrian Bejans Theorie The Constructal Law inspirieren und erforschte daran angelehnt «Strömungsmuster, welche die Struktur des gesamten Universums bestimmen». Diese Strömungsmuster fand sie in Flüssen, neuronalen Netzwerken, Blitzen, in der Lunge, in der Wuchsform von Pflanzen und in sozialen Dynamiken. «Jede Strömungsarchitektur auf der Erde folgt der natürlichen Tendenz, leichter fliessen zu wollen. Die Evolution ihrer Bewegung verfolgt stets das Ziel, in ein Gleichgewicht zu kommen und Widerstände zu minimieren.»
(Mit) Widerstand umgehen
Gabrielas Worte schicken mich auf eine Zeitreise: Ich sehe mich als kleines Mädchen in der Schule. Den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, war überhaupt nicht das, was ich und meine Mitschüler*innen verfolgen sollten. Im Gegenteil, es war eher verpönt, ihn zu gehen, ein Zeichen von Faulheit und Minimalismus; Eigenschaften, die in Wertekontrast gestellt wurden zu Fleiss und Fleissigkeit, einer Tugend, die hohes Ansehen genoss. Interessant, dass die meisten von uns Schüler*innen eher dem sogenannten Minimalismus zugetan waren und sich nur mittels Belohnungen zur Fleissigkeit verführen liessen.
Wurden wir damals so trainiert, dass uns diese natürliche Bewegung im Laufe der Jahre abhandengekommen ist? Was sich wohl auf dem mittlerweile ein wenig zugewachsenen Weg des geringsten Widerstandes alles gezeigt hätte?
Memory spielen
Gabriela sieht die Welt in Assoziationen und Verbindungen. Sie forscht nach Verwandtschaften zwischen Bewegungen, Licht, Schatten, Konturen und begegnet immer wieder Formen und Muster der Ähnlichkeit. Formen, die verwandt sind miteinander. Diptychen oder Triptychen nennt man Bildpaare oder -trilogien, die miteinander im Dialog sind. Wie entstehen diese Dialoge zwischen Bildern, Räumen, Landschaften, die im Moment der Aufnahme vielleicht weit auseinanderlagen?
Gabriela erzählt von ihrem Fotoarchiv, das sie über die Jahre hinweg zusammengestellt hat. Gesammelte Eindrücke aus verschiedenen Landschaften, eingefangene Stimmungen, die oft das Dunkle und Düstere, aber auch die Stille zeigen. In dieser Sammlung finden sich die miteinander verwandten Bilder.
Ob zwei Bilder miteinander sprechen, sei für sie oft sofort erkennbar, sagt Gabriela. Die sich ähnlichen Muster zeigen sich den Betrachter*innen unmittelbar. Eine Art Memoryspiel in dem sich die Grenze zwischen Suchen und Finden verwischt. Und doch ist diese Arbeit des Suchens und Findens wesentlich dafür, dass sich Ähnliches den Betrachtenden überhaupt erschliesst. Die Lichter einer Stadt und die Verästelungen eines Baumes. Beides Formen, die in einer ähnlichen Bewegung gewachsen – oder vielleicht eben: geflossen – sind. Hauptachsen und Nebenachsen. Von dick zu dünn. Von breit zu schmal. Die Schuppen eines Fisches und die Zeichnung des Lichtes, das sich in den Wellen bricht. Ineinanderfliessende Halbmonde. Lichtschuppen.
In Verbindung gehen
Es ist die Art und Weise des Schauens, das sich an der Ähnlichkeit, der Form- und Bewegungsverwandtschaft orientiert, das die Diptychen und Triptychen herausschält und miteinander in Dialog bringt. Dieser Blick für das, was miteinander verbunden ist, erscheint mir gleichzeitig ungewohnt und wunderbar. Die Welt in ihrer Verbundenheit, ihrer Verwandtschaft wahrzunehmen ist für uns eher fremd geworden. Das Trennende ist oft das, worauf wir uns konzentrieren. Unsere Wahrnehmung orientiert sich an dem, was wir unterscheiden können. Dadurch entstehen Trennungen. Zwischen dick und dünn, jung und alt, gestern und heute, eckig und rund, schwarz und weiss, hell und dunkel, gut und schlecht. Dualität statt Dialog. Ewiges Dilemma.
Verheissungsvoll erscheint mir da der Weg des geringsten Widerstandes und die Art von Wahrnehmung, die sich den Darauf-Gehenden erschliesst. Wenn ich erneut zu den Bildern zurückkehre, regt sich in mir eine leise Ahnung der Weite dieses Horizontes, der sich über Welten der Verbindungen aufspannt.

Sabina Fischer beschäftigt sich als Forscherin und Prozessbegleiterin mit Ethiken der Aufmerksamkeit und engagiert sich für vielstimmig-tragende Kooperationen. Infos unter www.sabinafischer.ch
Fotos: Gabriela Torres Ruiz
Website der Fotografin: www.gabrielatorresruiz.com

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