Begegnung mit der Wullena
Auf den Brachen der Großstadt, den Baustellen, den Umbrüchen, dem Schotter, da wächst so manches. Auf meinen Streifzügen nach Schreibtischtagen starte ich zu Fuß in die nächste Nachbarschaft, das sog. Kreativquartier, hier ist einiges im Entstehen und im Umbau begriffen.
Kein schöner Anblick, vor allem wird verdichtet ohne Ende – ein neues, riesiges Justizzentrum wird hochgezogen am nahegelegenen Platz, daneben die Wohnungen für die dort in der Zukunft arbeitenden Staatsbediensteten – auf der anderen Straßenseite ist aber noch freies Feld und auf diesem Schotter wachsen die wolligen und weichen Blattrosetten der Königskerze. Ich freue mich über ihr Dasein und wende mich ihr zu, greife in ihre weichen Blätter, die mich in ihr Inneres führen, Blatt um Blatt sehr kuschelig! Herzerwärmend.
Blattrosette einer Königskerze (Verbascum) / Fotos: Beate Zeller
Dann gehe ich weiter zur baumbestandenen Insel, die in der Baugrube stehengeblieben ist und hoffentlich auch bleibt – denn ich stelle fest:
Hier stehen auf einem Plateau drei Eiben und bilden miteinander ein Dreieck. Ich stelle mich in ihre Mitte und denke: Wie mystisch ist das denn, mitten in dieser Wüste gibt es eine Oase! Das lässt mich ganz andächtig werden.
Brache mit Sonnenuntergang, rechts die Oase
Zuhause recherchiere ich im Internet, welche Heilkräfte die Königskerze hat und wofür sie steht, und finde im Kräuterbuch von 1543 von Leonhart Fuchs diese Textstelle:
Hildegard von Bingen erwähnt die Königskerze (wohl Verbascum thapsus), und empfiehlt die “Wullena” unter anderem als Heilmittel für ein „traurig Herz“.
Wunderbar, das kommt gut.
So freue ich mich über die Entdeckungen und finde, dass sich auch in der Stadt an jeder Ecke unerwartete Orte und Wesen zeigen. Es gilt also, immer wieder neu aufzubrechen mit frischem Blick…
Blick durch die Eibenzweige
In diesem Spannungsfeld meines eigenen Aktivismus, des Fragens und Forschens danach, was ich tun könnte, um dem Lebendigen zu dienen, ist es gut, auch immer wieder sich zurückzuschrauben ins ganz Einfache: Lauschen und Beobachten und Einüben von Gegenseitigkeit.
Ähnlich schlägt es der Philosoph und Biologe Andreas Weber als Auftaktimpuls für den Gesprächszyklus der Erdfest-Initiative vor. Aktuell finden, initiiert von Erd-Charta und Erdfest, regelmäßige Jour Fixe online statt. Ziel dieser Zusammenkunft ist, auf ko-kreative Weise Handlungsimpulse für eine (neue) Lebendigkeit der Erde zu nähren und weiter voran zu bringen.
Der „hoffnungsvolle Praxisimpuls“ von Andreas Weber ist, erstmal alles Wohlmeinende zurückzustellen, unser vermeintlich „besseres Wissen“ zu reduzieren.
„Wir können immer, jederzeit, in einem Moment, den wir uns dafür reservieren, hingehen und darauf hören, was uns die Erde fragt. Das Verhältnis also umdrehen und schauen, wie die Erde uns sieht.“
Die Gegenseitigkeit als die goldene Regel, die in der Welt des Lebendigen eingehalten wird von allen Teilnehmern. Dies helfe und alles andere käme dann.
Es braucht dafür eine Langsamkeit sowie die Offenheit und den Raum zwischen uns.
Das wird auch in der zur gleichen Reihe gehörenden Veranstaltung von Im Dialog e.V. und der Erdfest-Initiative klar an dem Nachmittag des 16. April 2021 im Zoom unter der Überschrift: „Mit der lebendigen Mit-Welt kommunizieren“. Wie schwer es für uns Menschen ist, aus dieser abgekapselten verdinglichenden Weltsicht herauszutreten. Die lebendige Mitwelt als Gegenüber wahrzunehmen, also einen Schritt zurückzutreten, um dem anderen Raum zu geben. Das stutzt die menschliche Arroganz auf ein verträglicheres Mass.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, den Beitrag von Astrid Habiba Kreszmeier wieder zu lesen über „Die vielen Du“, sie schreibt darin sehr anschaulich über die Crux mit „Grossworten“ wie „Natur“ und ihre Liebe zu den vielen Du’s.
„Ich will viel mehr von diesem oder jenem Tal, diesem oder jenem Berg, diesem Fluss, diesem Baum, diesem Käfer, diesem Wind sprechen, ich will die Namen wieder erinnern und in ihnen das «Du», das sie sind. Die bescheidenen grossartigen besonderen Dus, die vielen Dus will ich wieder erinnern, mit ihnen in Dialog oder in Dialoge kommen.“
Mikrokosmos in der Regenrinne
Immer wieder neu losgehen also und offen bleiben für Begegnungen:
Heute Abend schaue ich beim blühenden Apfelbaum vorbei und komme darüber und darunter mit einer Frau ins Gespräch, die mit ihrer kontaktfreudigen Terrierdame unterwegs ist – der Hund lädt zum Spiel und ich werfe Stöckchen solange wir reden, wir haben offensichtlich ähnliche Themen, die Verdichtung in der Stadt, der abnehmende bezahlbare Wohnraum, das restliche Grün, die schwindenden Lebensräume für die Tiere, die Sorge um die Artenvielfalt, dann gehen wir wieder unserer Wege und ich fühle mich sehr verwandt, Beate hat Bianca getroffen.
Dann gehe ich bei Wullena vorbei, sie wächst! Ein Hase rast über die Brache, aufgeschreckt von meinen Schritten. Ich genieße die Strahlen der Abendsonne, die angenehme Luft, begrüße die kleinen und zarten hellgrünen, herzförmigen Blättchen, die eine junge Birke entfaltet, so drehe ich meine Schleife übers Kreativquartier, und als ich mich wieder in den Heimweg einfädle, flötet ein Rotkehlchen sein Abendlied.
Es rührt mich, wie unbekümmert und unbeschwert die nicht-menschlichen Wesen unterwegs sind, und ich als menschlicher Erdling fühle mich davon aufgemuntert.
Beate Zeller ist selbständig mit Dramaturgie & Pressearbeit in München tätig. Den Natur-Dialog Ansatz hat sie bei nature&healing im Lehrgang Systemische Naturtherapie 2016/2017 kennengelernt, mit dem Masterzyklus 2018/2019 vertieft, und ist seitdem anders unterwegs.
Portraitfoto: Ulrike Riede
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