Reisende Steine
Wie lange braucht ein Stein, um von der Quelle ans Meer zu reisen? Und, wie verändert ihn diese Reise? Auf diese Fragen habe ich bis heute nur Bruchstücke von Antworten gefunden. Sie begleiten mich wieder in diesen Tagen, in denen ich auf dem Rücken den Fluss hinunter treibe und dem Klacken der Kiesel am Grund lausche. Dieses Klacken bezaubert mich seit Jahren jeden Sommer aufs Neue. Es klingt hell und fein – eine besondere Sprache, im Untergrund gesprochen und dem menschlichen Ohr, das sich weitgehend über Wasser aufhält, meist unzugänglich.
In diesen heissen Tagen faszinieren mich die Geschichten der Steine und die Kiesbänke, die der Fluss aus ihnen formt, als ständig wechselnde Illustrationen dazu. Wie Treibgut lasse ich mich tragen zusammen mit unzähligen farbigen Gummibooten, Menschen, die Abkühlung suchen und dem Holz, das von den Gewittern in den Bergen angeschwemmt wird. Einem Rätsel auf den Grund gehen, diese Redewendung ist auf einmal verkörperte Wahrnehmung und erhält eine neue Bedeutung für mich.
Geschliffene Kiesel nach einer langen Reise.
Ich liebe den Fluss, der durch die Stadt fliesst, in der ich wohne. Er ist eine Lebensader, ein wildes Element, das die Geschicke der Stadt über viele Jahrhunderte gelenkt hat und es bis heute tut. Bis heute zieht er die Menschen in seinen Bann. Scharenweise lassen sie sich in diesen Sommertagen von ihm rufen und verführen. Einige tauchen nie wieder auf. Der Fluss schenkt Leben und nimmt es jenen, die sich ihm zu leichtfertig hingeben. Er bringt Freude, aber auch Zerstörung, trotz der menschlichen Eingriffe, die ihn zu zähmen versuchten.
Um die Reise der Steine besser zu verstehen, bin ich dem Fluss aufwärts gefolgt, habe gesehen, wie sein Bett streng geführt und wieder geöffnet worden ist, da er sich nicht recht bändigen liess und immer wieder ausriss. Der Fluss speist zwei Seen, die besondere Rätsel aufgeben: Wie queren die Steine diese tiefen Wasser? Geradezu magisch erscheint eine solche Reise weit unten am dunklen Grund, der uns Menschen verborgen bleibt.
Auf dem Weg ins Quellgebiet präsentiert sich die menschliche Faszination und Obsession mit dem Fluss und die wirtschaftlichen Interessen, die er tragen muss. Er wird bewundert, bestaunt und tausendfach fotografiert, dort wo er sich einen schmalen Weg durch den Fels gebahnt und wundersame Gesteinsformationen hinterlassen hat. Er wird zur Energiegewinnung gestaut und gelenkt und plätschert dazwischen trotzdem so klar und lebendig, als könnten ihm die technologischen Kapriolen nicht das Geringste anhaben. Ich bin schockiert und empört, als mir in voller Tragweite bewusst wird, wie viele menschengemachte Eingriffe der Fluss ertragen muss; und zugleich erleichtert und überrascht, zu sehen, wie munter er trotzdem fliesst.
Auf dem Weg zur Quelle.
Seine Quelle entspricht dann überhaupt nicht dem inneren Bild, das ich mit mir herumgetragen hatte. Der Fluss hat keinen Ursprung im Sinne eines einzelnen Ortes, an dem er entspringt. Seine Quelle ist mannigfaltig, ein weit ausgedehntes Felsmassiv, das sich über Kilometer erstreckt, aus dem das Wasser überall hervorquillt. Stundenlang wandle ich in dieser Quelle wie in einem Traum. Sie umgibt mich vollständig, dringt einmal glucksend und gurgelnd unter meinen Füssen an die Oberfläche, fällt tosend über mir eine Klippe herunter oder plätschert mir am Wegrand über Stock und Stein entgegen. Eine Quelle, die umarmt und umspült, gleichzeitig überall ist, in unglaublicher Vielfalt und mit gewaltiger Kraft.
Von hier aus machen sie sich also auf den Weg, die Steine, die hier oben noch anders beschaffen sind, Ecken und Kanten haben und eine andere Sprache sprechen, als jene in der Stadt, in der ich wohne. Hier poltert und rumpelt es dumpf in den Bächen, wie ein unregelmässiger Herzschlag, der die wilde und weite Reise begleitet, die ins Tal führt und weit darüber hinaus durch Wälder, Felder, Seen und Städte bis ans Meer.
Sabina Fischer ist Forscherin und Prozessbegleiterin, fasziniert von unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Welt und den Horizonten, die sich durch Perspektivenwechsel erschliessen. Weitere Infos
Fotos: Sabina Fischer
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Liebe Sabina. Lieber Franz.
Was für ein schöner Dialog, und welch reiche Entdeckungen. Vielen Dank!
Ich war diesen Sommer mit meinem kleinen Sohn in den Bergen unterwegs. Bei einem Abstieg auf gut 2.500m haben wir den Weg verlassen weil ich zu ihm gesagt habe: “Lass uns im Fluss laufen.” Da weit und breit kein Wasser zu sehen oder hören war wunderte er sich. Auch ich selbst habe mich bei genauerer Betrachtung über dieses Bachbett gewundert und gleich an die Reisende Steine gedacht. Wir sind ihnen gefolgt, fliessend, sprudelnd, wellend, hüpfend und (fast) stürzend. 😉
Liebe Sinha. Danke für das Bild dieses Steinbachs und euer Spiel damit 🙂
Heute morgen begegnen mir in Schauberger’s “Das Wesen des Wassers” auf Seite 20 unter der Überschrift “Schwimmende Steine” doch tatsächlich diese Zeilen: “Da richtete sich einer der grössten Steine auf, umgab sich mit einer eisigen Halskrause und pendelte im Wasser. Kurz darauf erschien ein zweiter, ein dritter. Nach wenigen Minuten lag kein einziger Stein mehr am Grunde, sondern [alle] schwammen auf der spiegelglatten Oberfläche des Wassers.”
Klingt phantastisch oder?! Viktor Schauberger scheint aber kein Phantast zu sein, sondern ein geduldiger Beobachter, der durch seine Tätigkeit als Wildmeister viel Zeit in der Natur verbrachte und offen dafür war, von ihr zu lernen.
Lieber Franz. Danke für den wertvollen Hinweis zu Viktor Schauberger! Der Dokumentarfilm ist sehr eindrücklich. Eben habe ich sein Buch “Das Wesen des Wassers” aus der Bibliothek geholt. Auf den ersten Seiten schreibt Schauberger über die Fähigkeit der Forellen, im reissenden Bergbach bewegungslos zu stehen. Wenn ich an meine eigene Erfahrung mit dem Flussschwimmen denke und die Unmöglichkeit, schon bei einer ruhigen Fliessgeschwindigkeit gegen den Strom zu schwimmen, ist das Forellenverhalten tatsächlich faszinierend! Ich bin beeindruckt von seinen Beobachtungen und berührt davon, wie er seine Beziehung zum Wasser beschreibt. Berührend finde ich auch diese Zeilen, in denen Schauberger die vielschichtig verwobene Sicht auf die Welt beschreibt, die er von seiner Mutter gelernt hat. Zum Beispiel: «Wenn du einmal gross bist und ich nicht mehr bin», sagte meine Mutter, «und es dir nicht gut geht im Leben, dann gehe zum Wasser, wo du mich irgendwie sehen wirst und dann kann ich dir helfen.» (Viktor Schauberger, Das Wesen des Wassers», 2006, S. 16)
Herzlichen Dank für deinen eindrücklichen Beitrag! Beim Lesen fielen mir sofort die Aussagen von Viktor Schauberger über hochschwebende Steine ein. Hier ein Dokumentarfilm: https://www.youtube.com/watch?v=R4h_yiDIuQE