Mehr Lebendigkeit wagen
Erste Lesefrüchte zu Astrid Habiba Kreszmeiers Neuerscheinung: „Natur-Dialoge“
Dieser Text ist keine Rezension, sondern ein Veröffentlichen von Gedanken, Assoziationen und Hervorhebungen völlig unchronologischer und subjektiver Art zu diesem 260 Seiten starken Brief an eine Freund:in… und wir laden dazu ein, zu kommentieren, und eigene Lesefrüchte zu teilen.
Während der Lockdown-Zeit kursierten so allerhand Clips und Witze in den sozialen Medien – einer davon fällt mir nun wieder ein, als ich im vorletzten, 6. Kapitel der “Natur-Dialoge” mit der Überschrift: “Unterwegs”, im Abschnitt „Zwischen den Dingen“ ankomme.
Der Witz lautet: Es sei nicht weiter beunruhigend, wenn man anfange, mit den Dingen zu sprechen, einen Psychotherapeuten solle man hingegen dann aufsuchen, wenn einem die Dinge antworten.
Astrid Habiba Kreszmeier spricht in diesem Abschnitt von der Dingwelt als Lebens-Mitwelt, sowie davon, dass die wechselseitigen Dialoge, auf die sie im Schreiben immer wieder rekurriert, selbst mit den menschengemachten Dingen fortwährend im Gange seien.
Exzerpt, Seite 204
Das Prinzip der Gegenseitigkeit wirkt durch alle Praxisfelder hindurch. (S. 211)
So leichtfüßig und selbstverständlich die Autorin, ihres Zeichens Diplompädagogin und systemische Psychotherapeutin (und noch vieles mehr), vom naturdialogischen, oder eben umfassender: sympoietischen Ansatz erzählt, so wenig „normal“ ist diese Art des Unterwegsseins in unserer, aufs Funktionieren ausgerichteten Welt. In dem Nichtfolgen dieser Logik, oder anders gesagt, dem Ausstieg aus dem “Dauer-Angst-Sorge-Befürchtungsmodus”, in dem wir uns so gerne aufhalten, und den sie als moderne Zivilisationserscheinung definiert, lese ich das Buch wie eine sanfte Anleitung zu revolutionärem Handeln. Eine zumutende, liebevolle Öffnung auf ein Feld, das begangen, und mit allen Sinnen ausgekostet werden will.
Exzerpt, Seite 18
Mehr Lebendigkeit wagen, so könnte auch ihr Insistieren auf unserer körperlichen Verfasstheit als Erdlinge, das Mitsein mit anderen menschlichen und mehr-als-menschlichen Wesen und Dingen, das gemeinsame Erschaffen von Welt, und das Mitsprechen des Ortes, an dem wir uns gegenwärtig befinden, überschrieben werden.
Sie ermuntert zu einem „lustvollen, sympoietischen Zirkeltraining, das die in uns allen schlummernden Wechselseitigkeitsgene erweckt“ (S. 64). Beim ersten Lesen des Buchs notiere ich mir etliche Textpassagen, weil ich sie so wertvoll und memorabel finde, schließlich zähle ich über zehn handgeschriebene DIN A 4 Seiten…
Wir sind immer auch wahrgenommen von dem, was uns umgibt… (S. 127)
Nehme ich das an, oder lasse ich mich darauf ein, fühle ich mich immer eingebettet, kann ich gar nicht herausfallen aus dem Zusammenhang. Das gelingt besonders gut in Naturräumen, aber auch die Dingwelt wirkt auf mich und umgekehrt. Das Prinzip der Wechselseitigkeit ist zentral.
Und es ist sehr spannend, das auszuprobieren! Die Perspektive zu wechseln, mich tatsächlich zu fragen, wie findet meine Matratze mich als Schlafende, oder nächtlich Wachende und sich Wälzende… Hinzuhören und Tore für Wahrnehmungen zu öffnen – das gelingt nur, wenn wir nicht im Funktionieren-Modus sind.
Großes Plädoyer für das Streunen! Absichtsloses Gehen, Erkunden, Streifen durch das Gelände, schauen, was einem entgegenkommt.
Dem Zufall eine Chance geben.
Der dicke Brief an die Freundin (wie sie in Anlehnung an ein Lesezeichenzitat von Jean Paul ein Buch nennt) kommt gut bei mir an und ich werde ihn immer wieder lesen und beherzigen – sofort möchte ich regelmäßige Feuerkreise mit Freundinnen bilden – rausgehen, immer wieder rausgehen, eintauchen in die Naturräume.
Exzerpt, Seite 113
Feuer-Kreis-Dialoge gehören zu den wichtigsten sympoietischen Arbeitsweisen. (S.144)
Wir sind „einander anvertraut in ständiger Bewegung“ (S. 227) und leben in einer „Choreografie der Koexistenz, die wir Sympoiese nennen“ (S. 260). Alles existiert nur in ständiger Beziehung und Wechselwirkung. Das finde ich ungeheuer tröstlich und zuversichtlich.
Interessant ist auch der andere, eigenwillige Ton, den sie anschlägt und den ich als ausgesprochen gut lesbar empfinde. Sie nimmt mich quasi mit auf ihrem Weg, wir starten an ihrem ganz konkreten Schreibort auf dem Freudenberg im Appenzeller Land.
Astrid Habiba Kreszmeiers Ansatz ist irdisch, post-heroisch psychologisch und zirkulär-zuversichtlich. Und mir gefällt, dass auch die Menschen einen Platz bekommen, gibt es doch nicht wenige, die den Menschen auf dem Planeten Erde nur mehr als negative Energie sehen. Es ist eine Einladung zu handeln und zu wirken, zu streunen und zu lauschen, offen zu sein.
Menschen werden zu Hütern, Freunden, Partnern im großen, ständig werdenden Schöpfungstanz. (S. 66)
Noch einen Satz möchte ich hervorheben und genauer anschauen – sie zitiert in dem Kapitel „Lebendig zusammen mit einer lebendigen Welt“ und dem Abschnitt „Kooperative und fürsorgliche Gemeinschaften“ den Biologen Humberto R. Maturana, der „lieben als natürliches biologisches Phänomen“ beschreibt. Das finde ich bemerkenswert – haben wir doch einen ungeheuren Mythos rund um das exklusive, romantische Lieben zweier Individuen erzeugt. Und es ist ja nicht so, dass die Menschen in der Struktur der Kleinfamilie einen wirklich glücklichen Eindruck machen… überlastete Eltern, genervte Kinder, stressiger Alltag…
(…) Dieses freiwillige fortwährende Zusammenleben in kleinen Gruppen, so schließt Maturana, ist mit dem Gefühl von Liebe und Freude an der Existenz des anderen verbunden. Lieben ist ein natürliches biologisches Phänomen. Diese Form von Lieben und diese lange Zeit der Erfahrung von harmonisch-handelnder Einbettung in die Welt sind wesentliche genetische Grundlagen des Menschseins, die in uns allen bis zum heutigen Tag vorhanden sind (…). (S.67)
Kreszmeiers Schreiben und Wahrnehmen zeugt von einem mitliebenden Sein in der Welt und davon, dass sie verbunden ist mit vielen anderen Stimmen, so zitiert sie aus der Nobelpreisrede “The Tender Narrator” von Olga Tokarczuk:
(…) “Zärtlichkeit ist spontan und ohne Eigeninteresse; sie geht weit über empathisches Mitgefühl hinaus. Vielmehr ist sie das bewusste, wenn auch leicht melancholische, gemeinsame Teilen von Schicksal. Zärtlichkeit ist eine tiefe gefühlvolle Sorge um ein anderes Wesen, seine Zerbrechlichkeit, seine einzigartige Natur und seine mangelnde Immunität gegenüber dem Leiden und den Auswirkungen der Zeit.(…) (S. 80)
Besonders begeistern mich naturdialogische Bezüge zum Feld des Kunstschaffens; in einem meiner Notizhefte (“really interesting“) finde ich zufällig eine Mitschrift von einem Interview 2021 mit der Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker. Anlässlich des allgegenwärtigen Streamens von Aufführungen, dem sie sich verweigert hatte, da es die Essenz der Performance verrate, sagt sie: „Live – Performance is like sitting around a fire“
Der Bogen schliesst sich – ich bin gespannt auf weitere Lesefrüchte und Kommentare…
Beate Zeller ist selbständig mit Dramaturgie & Pressearbeit in München tätig. Den Natur-Dialog Ansatz hat sie bei nature&healing im Lehrgang Systemische Naturtherapie 2016/2017 kennengelernt, mit dem Masterzyklus 2018/2019 vertieft, und ist seitdem anders unterwegs.
Portraitfoto: Franz Kimmel
Exzerpte und Titelfoto: Beate Zeller
CC BY ND Verwendung zu nicht-kommerziellen Zwecken erlaubt, solange dies ohne Veränderungen und vollständig geschieht und der Urheber genannt wird.
Wunderbar. Hier sitze ich in einem vielbäumigen Wald an einen windwelligen Strand, höre all diese säuseln, rauschen und wogen während ich Deinen Text samt Notizen “verspeise”. Ein gelungenes Mahl dieser Korb an Lesefrüchten…
Liebe Beate, ich danke dir für deine Auswahl, die Notizen, die Zusammenstellung von Sätzen, das Teilhaben lassen an deinem Streifzug durch den langen Brief! Ich freue mich hast du das Sprachbild des langen Briefes an Freund:innen aufgegriffen, es hatte sich beim Schreiben oft so angefühlt und es ist wunderbar, sich in einer Welt voll Freundschaften und eben Vertrauten zu wissen.
Ein paar Mal musste ich Deine Notiz aus dem “really interesting” Heft lesen, der Name der Tänzerin und Choreografin fasziniert mich: Keersmaeker! Das klingt wie eine, die die Dinge umkehrt, umsticht, neu wischt. SchönI und wie gut ihre Aussage das Anliegen des Analogen, das sich durch den sympietischen Ansatz zieht, unterstreicht. Ganz herzlich, Habiba