Auf den Spuren des Vogellisi
Wir trafen uns zum Feuer hüten in Adelboden. Dort kommt gemäss dem Volkslied das Vogellisi her. Überall im Dorf wird darauf verwiesen, Holzskulpturen zeigen eine junge Frau mit wehenden Haaren zum Himmel blickend. Und weil es gut fürs Geschäft ist, gibt es neben einigen Produkten auch ein Vogellisital.
Schwebend in der Gondelbahn erreichen wir drei Frauen das kleine Seitental und streunen dem Bach entlang bis zum Wasserfall. Wir finden einen geschützten Platz am Bach, wo wir uns einrichten, ein Feuer entzünden. Gut genährt vom gemeinsam gekochten Risotto mit Gemüse und einem Pilz kommen wir ins Gespräch. Wir sinnieren über alte Kulturtechniken, welche vor allem von Frauen, wie Archäolog:innen annehmen, entwickelt, verfeinert und weitergegeben wurden. Die Feuerstelle im Haus, der Herd, hat dabei eine besondere Bedeutung. Die ältesten Häuser fand man in der Alteuropäischen Kultur, in Thessalien zum Beispiel. Die Herdstelle war immer der räumliche Mittelpunkt des Hauses und die Ausgrabungen zeigen, dass es der einzige Platz war, dessen säkulare und kultische Funktion zu keiner Zeit getrennt wurde. Neben den Gerätschaften zum Kochen fanden sich immer auch solche zum rituellen Gebrauch und Figurinen von weiblichen Gestalten.[1]
Das Flechten von Körben, Schleifen von Perlen, Töpfern von Krügen, die Kenntnisse dafür entstanden durch eine enge Verbundenheit mit der Landschaft, den Jahreszeiten, den Mitlebewesen. Und, ob es eine Tonfigur für den Hausaltar war oder ein Besen zum Reinigen des Herdes, war wohl beides natürlich heilig oder wunderbar natürlich. Das war Dannzumal noch nahe beieinander, so unser Gefühl.
Nach einer Sternennacht im Schutz der Tannen machen wir uns auf den Rückweg. Wäre ich das Vogellisi gewesen, hätte ich mich hier niedergelassen, geschützt von Felsen und Tannen, nicht weit vom Dorf und doch in der Ruhe und in guter Gemeinschaft, das belebende Rauschen des Wassers im Ohr, umgeben von unzähligen Mitlebewesen und Heilkräutern aller Art. Ob Krähe oder Adler meine Freunde geworden wären, wie der Volksmund erzählt, oder der Hirsch, die Spitzmäuse oder Schmetterlinge, weiss ich nicht. Aber allein wäre ich hier nicht gewesen.
So stelle ich mir das Vogellisi vor: Weder Hexe noch Heilige, sondern eigenständige Frau mit Lebenserfahrung, Heilwissen und besonders guten Verbindungen zu den Vögeln. Hat es nur eine weise, naturverbundene Frau gegeben in diesem Tal? Ich glaube nicht. Die Erinnerung an diese Zeit steckt in uns Menschen drin. In vielfältiger Weise folgen wir dieser Spur. Und so schenken uns Begegnungen mit «der Natur» unverhofft ein Gefühl von Erdverbundenheit und Aufgehobensein. Ich bin dankbar für jene Nacht im Vogellisital – um die Erfahrung vom Behütetsein von den alten Fichten und dem dunklen, von Sternen übersäten Nachthimmel.
Zum Weiterlesen:
[1] Haarmann, Harald: Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas, C.H. Beck Verlag, 2. Auflage, 2012
Sylvia Thoma ist gerne alleine oder mit Menschen draussen unterwegs, um das ganz Einfache, Elementare und Erdverbundene zu leben und um räumliche und elementare Beziehungen zu pflegen.
Fotos: Sabina Fischer
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