Herzliche Erwärmung des Vorhandenen
„Es gibt große Werke, wo man was erkennen kann, wie Geschichten erzählt werden können, ohne, dass Geschichte das Entscheidende ist. Oder dass die Story, oder die Intrige, oder die Konfrontationen die Oberhand behalten. Das, was nicht geschieht, das nicht viel Geschehene, das Geschehen bedeutet. Fiktionen können viel tiefer gehen, viel realer sein, als naturalistische oder realistische Nachbildungen. Eigentlich geht es nur darum. Wenn etwas vom Leben nicht da ist, verwandelt zu werden in Erzählung, in Fiktion, in Erfindung, dann ist es auch nicht erzählenswert. Heutzutage scheint es mir, dass man nur nachstellt, was durch Film, Fernsehen und Zeitung schon ausgespuckt ist. Es muss erfunden werden. Eine Erfindung ist ganz was Seltenes. Erfinden zu dürfen, zu können, zu sollen, das ist nicht normal. Es ist eine Art von Vision, und ohne Vision geht es nicht. Fantasie ist keine Gaukelei, sondern die herzliche Erwärmung des Vorhandenen, dessen, das vorhanden ist. Das ist Fantasie und nicht dieses Storytelling und all dieser Scheißdreck. Das, was vorhanden ist, wird plötzlich zeichenhaft, aber in einer Art von sanften Hochrufen.“
Literaturnobelpreisträger Peter Handke im Film „Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte.“ von Corinna Belz, 2016, Indigo, Deutschland.
Herzliche Erwärmung des Vorhandenen
Wie kann ich das mit Sprache beschreiben?
„Scheiße“ höre ich mich sagen, so laut, dass offenbar andere Personen unserer Masterklasse-Gruppe diesen emotionalen Kraftausdruck auch hören. Jedenfalls blicken einige zu mir herüber, und später wird zumindest Pasqual besorgt nachfragen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich aus therapeutischer Sicht völlig ok, aber auf einer anderen Ebene, auf der es mir schwerfällt, „es“ zu benennen, völlig durch den Wind bin. In dieser hier erlebten Dichte kenne ich das nicht.
Ansatzweise habe ich eine ähnliche Erfahrung in meiner ersten „Macaia“ gemacht, die Cito geleitet hat. Eine Macaia ist ein drei Tage (und zwei Nächte) dauernder Aufenthalt in einem Wald auf der Suche „nach einem guten Platz im Leben“. Es ereignete sich am Schluss dieser Veranstaltung in einem Wald in Appenzellerland, Cito sagte sinngemäß, „wenn der Erste aufsteht, ist es vorbei, dann gehen wir“. Ich wartete einige Momente, und als ich vom Platz des Gemeinschaftsfeuers aufstand, blickte ich nach oben, und ich hatte den Eindruck, dass der Wald lebt. Es war eine Erfahrung eines tiefen Friedensgefühls und ich fühlte mich enorm sicher.
Ich befinde mich knapp 100 Meter von der Gruppe entfernt am Ufer eines Sees im Tessin. Das „Scheiße“ ist keine Abwertung der Situation, sondern eher ein ungläubiges „was passiert da gerade“? Ich bin wie noch nie in meinem Leben nicht im Kopf (deshalb sind die Worte hier in der Nacherzählung erst später gekommen). Ich bin ganz im Hier und Jetzt, mein Hautsack und dieser Naturraum mit seinen Kräften, die mich zur Gänze in der Hand haben.
Ich zog in diesem Modul so oft die Wanderschuhe aus, wie noch nie in den letzten 21 Jahren bei Veranstaltungen der Wildnisschule, analog, planoalto und nature & healing. Es scheint der Drang zu sein, in Verbindung zu gehen, in Kontakt zu kommen. Ich erinnere mich an eine Verschreibung von Habiba in Zürich in einer Einzelsupervision im Rahmen meiner Therapieausbildung, als sie mir empfohlen hatte, mich mit der Erde, dem Schlamm, dem Sand zu verbinden, um Kontakt mit der Natur aufzunehmen. Das hatte damals nicht wirklich geklappt, ich hatte es auch bisher nicht richtig verstanden, was das konkret bedeuten könnte. Aber heute, da ist es offensichtlich Programm.
Am ersten Tag dieses vierten und letzten Moduls wusste ich nicht mehr, warum ich mich angemeldet hatte für den Masterzyklus, ich weiß es bis heute nicht genau. Ich hatte an diesem ersten Tag Widerstand in mir, aber anders als sonst. Widerstand ist ein bekanntes Muster in mir. Ich lege mich zum Beispiel oft mit Habiba an, fachlich und emotional, meist scheitere ich. In Widerstand zu gehen, mich abzugrenzen, von was auch immer, ist eine wichtige Stärke, die mir biografisch oftmals sehr hilfreich war. Ich kam mit acht Wochen in eine Kinderkrippe, eine sozialdemokratische Errungenschaft einer aufstrebenden Arbeiterschicht in der Stahlindustriestadt Linz in Oberösterreich. Meine Mama ging immer arbeiten, das war zu der Zeit außergewöhnlich. Zusätzlich war ich als Kleinkind wegen einer Lungenentzündung länger in der Kinderklinik in Linz, was die Bindung zu meiner Mama zusätzlich negativ beeinflusste. Ich lernte daraus, auf Distanz gehen, auf mich zu schauen, weil ja keiner da war (>natürlich< unbewusst). Diese Fähigkeit entwickelte ich zu einer wichtigen Kompetenz im beruflichen Umfeld, insofern, dass ich Berater geworden bin, der von außen, aus der Distanz, sehr erfolgreich Menschen und Kontexte analysieren kann und damit viel Geld verdient.
In einer „herzlichen Erwärmung des Vorhandenen“ ist in Widerstand zu gehen nicht hilfreich. Habiba gab mir im vorletzten Modul dazu ein recht strenges Feedback, das ich schweren Herzens gut nehmen konnte. Sie hatte recht. Es ist eine Stärke, aber für eine verbindende Naturerfahrung nicht förderlich.
Wir sind also im Abschlussmodul „Luft“ des Masterzyklus. Habiba hat uns als Gruppe eine Aufgabe gegeben, die „Slow Motion“ heißt. Dabei gilt es, sich so langsam wie nur möglich in der vorhandenen Topografie zu bewegen, um zeitreduziert achtsam das wahrzunehmen, was uns sonst entschwindet. Ich weiß recht schnell, dass ich diesem Auftrag nicht folgen werde. Aber nicht wie so oft in der Vergangenheit aus Widerstand, Habiba entgegenhaltend, sondern weil mir instinktiv klar ist, dass ich einen anderen Auftrag erfüllen muss.
Ich war am Vormittag dieses Tages schon hingezogen zu einem Platz, der über eine Holzbrücke zu erreichen war, „streunend“ unterwegs (Kreszmeier 2021: 21 ff). Dieser Platz am Ufer des Sees zog mich magisch an, nichts Spektakuläres, eher Harmonisches, in sich stimmig. Aus der Distanz der jetzigen Reflexion war es offensichtlich eine Vorbereitung auf das, was später folgen würde, ein Vorspiel, ein Kennenlernen von uns beiden, ein sich Einschwingen.
Jetzt stehe ich wieder an diesem Ort und beginne zu weinen, bitterlich, ein wildes Schluchzen, bei dem ich kämpfen muss, damit ich weiter Luft kriege. Es scheint aber keine Traurigkeit in mir hochzukommen, sondern (auch das werde ich erst später realisieren) ein zutiefst freudiges, glückliches Schluchzen, im Sinne, „dass mir das dann doch noch passiert“? Ich hatte so ein positives Weinen noch nie erlebt.
Zuvor hatte ich die unterschiedlichen Qualitäten des Schlammes, des Sandes dieses Uferabschnittes erspürt, die unterschiedlichen Temperaturen erfühlt und stehe nun am Ufer und blicke auf die andere Seite des Sees. Ich nehme einen Baum wahr, der mir mit allen seinen Blättern zuwinkt. Es ist eigentlich windstill, nur dieser Baum bewegt sich mit allen seinen Blättern. Er scheint mir zuzurufen, „Hey Doktor, ich sehe Dich!“ Im tiefen Schluchzen erkenne ich zusätzlich, wie die Wasseroberfläche sehr ästhetisch Wasser-Ringe produziert, als würden extrem symmetrische Wassertropfen diese verursachen. Aber es regnet ja gar nicht? Scheiße, was passiert da? Gebannt, ungläubig, zutiefst berührt stehe ich am Ufer dieses Sees und verstehe nicht, dass mir diese herzliche Erwärmung des Vorhandenen hier und heute geschieht.
Das alles schien nur wenige Augenblicke zu dauern, aber später sagt Habiba, dass diese Einheit der Slow-Motion-Aufgabe eine gute halbe Stunde in Anspruch nahm. Ich habe offensichtlich komplett mein Zeitgefühl verloren.
Der Baum bewegt sich mit all seinen Blättern, obwohl kein Wind weht. Der See, kommunizierte mit mir mit seinen wunderschönen Ringen, obwohl kein Regen fällt. Ein sanftes Hochrufen wird allgegenwärtig. Unglaublich.
Später, in der Reflexionsrunde, in der ich warte, bis alle Gruppenmitglieder ihre Erfahrung aus der Slow-Motion-Aufgabe schildern, und mich Habiba einlädt, doch auch zu teilen, was mir widerfahren ist, finde ich keine Sprache, um das zu beschrieben, was vorgefallen ist. Ich probiere es, und beginne erneut sofort, intensiv zu weinen und zu schluchzen.
„Es ist alles miteinander verbunden“ höre ich mich sagen, „wirklich, alles“!
Stammelnd und bruchstückhaft versuche ich, das Erlebte in Sprache zu fassen. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das ansatzweise gelang. Cito kommentierte meine Erzählungen damit, dass man im Buddhismus eine solche Erfahrung als Erleuchtung bezeichnen würde. In der Natur-Dialog-Fachsprache würde man aber eher von einem Resonanz-Erlebnis sprechen (Rosa 2018). In meinem Erleben war es eine sehr intensive Verbundenheit, die sich einstellte. Ich war mit der mehr als menschlichen Welt (Abrahm 2012) aufs Äußerste in Resonanz.
Später kam mir noch eine sprachliche Übersetzung in den Sinn, auch als Einleitung für mich selbst, in Verbindung mit der mehr als menschlichen Welt zu gehen:
„Ich sehe Dich und Du siehst mich. Ich höre Dich und Du hörst mich. Ich fühle Dich und Du fühlst mich. Ich rieche und schmecke Dich und Du riechst und schmeckst mich. Danke!“
In den 21 Jahren davor hatte mich oftmals ein mulmiges Gefühl begleitet, eine gewisse Art von Angst, vor allem wenn die Dunkelheit kam. Es war immer wieder Thema, was das denn sei, wie ich dem beikommen könnte. Ich will nicht sagen, dass die Angst verschwunden ist, das wäre verwegen. Ich glaube, dass sich diese Angst verwandelt hat. Als ich am letzten Abend dieses Abschlussmoduls unter meiner Plane lag und ich mich in diese Nacht hineinträumte, übernahm eine Verbundenheit die Kontrolle. Aus der Angst wurde Verbundenheit.
Am letzten Morgen unserer Masterklasse gehe ich zu einem Aussichtspunkt bei Sonnenaufgang, von dem ich einen fantastischen Blick auf einige Tessiner Bergspitzen erlebe. Ich erinnere meine Sätze und die Rührung setzt sofort wieder ein. „Klasse“, denke ich, „also kein einmaliges Wunder“, und freue mich, wie ein kleines Kind auf Weihnachten.
Ich sitze Tage später auf meiner Terrasse des Hauses, in dem ich meine Therapiepraxis habe, und blicke auf eine hohe Grasformation, wie sie sich im Wind ästhetisch bewegt, hin und her schmiegt. Ich fühle mich in dieses Schmiegen hinein und erlebe mich erneut sehr verbunden. Ich sehe Dich und Du siehst mich, ich höre Dich….
Zum Weiterlesen:
Abrahm, David (2012): Im Bann der sinnlichen Natur. think-OYA, Klein Jasedow
Kreszmeier, Astrid Habiba (2021): Natur-Dialoge: Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik. Carl-Auer, Heidelberg
Rosa, Hartmut (2018). Resonanz. Suhrkamp, Berlin

Dr. Siegfried Molan-Grinner, MA, Jahrgang 1968, verheiratet, eine erwachsene Tochter ein Sohn mit 17 Jahren; seit mehr als 3 Jahrzenten selbständig als Berater und Coach für Führungskräfte, Systemischer Familien-Therapeut, nebenberuflich Lehrender an der FH Linz im Department Soziale Arbeit, Leiter von unterschiedlichen Forschungsprojekten im Bereich Wirkforschung. dr-molan-grinner.at/
Fotos: Hans-Peter Hufenus

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Lieber Siegi.
Beim, jetzt nochmaligen Lesen Deines Textes ist mir der Philosoph Alexander Fischer eingefallen. Er nennt vier Ausprägungen von Resonanz: Sinnliche Resonanz, Biographische Resonanz, spirituelle Resonanz und schliesslich die ästhetische Resonanz. Ich habe gleich begonnen zu schauen welche sich in Deiner Geschichte wie zeigen und verweben…schön, dieses Geflecht. Herzliche Grüsse, Sinha