Wo die Geduld mit den Bäumen wächst
Über eine weite Reise auf eine karge Insel und die Sehnsucht nach dem Grün
Es ist kalt in Gaicht oberhalb des Bielersees, wo ich Sandra besuche, die hier ihre Kunst ausstellt. Sandra und ich haben uns vor ein paar Jahren im SNT-Lehrgang kennen gelernt und seither lose Kontakt gehalten. Heute treffe ich sie, um eine lang erträumte Reise auf jene griechische Insel zu planen, auf der Sandra im Moment lebt, wenn sie nicht in der Schweiz oder auf Reisen ist.
In dem kleinen Raum, in dem ihre Schätze ausliegen, brennt ein Feuer. Ich mache eine Bemerkung zu den frostigen Temperaturen vor dem Fenster und mutmasse, dass Sandra sicher froh ist, bald wieder in den Süden zu ziehen. Ja, sie ist froh, aber nicht wegen der Temperaturen: «Du frierst nirgends so im Winter wie im Süden», meint sie, legt ein Stück Holz nach und bietet mir eine Tasse Tee an.
Es fällt mir schwer ihr zu glauben, als ich durch die Ausstellung gehe und den wundersamen Teilen begegne, die in ihrer Farbigkeit die Grautöne vor dem Fenster kontrastieren. Von einer anderen Welt erzählen sie, diese Botinnen des Südens. Sandra hat sie von Syros nach Gaicht gebracht, hat dieses Strandgut, das sonst bestenfalls im Abfall landet, in etwas verwandelt, dem ich nicht anders begegnen kann als mit einem Lächeln. Eines dieser freundlichen Teile nehme ich an diesem Tag mit, zusammen mit der Verheissung, an jenen Ort zu reisen, an dem es vom Meer an Land gespült wurde.
Sandras Botinnen des Südens kontrastieren die Grautöne vor dem Fenster in Gaicht. (Fotos: Sandra Domenika Sutter)
50 Euro kostet ein kleiner Kofferraum gefüllt mit Holz. 15 Euro mehr als im Jahr zuvor. Nach einer langen Reise sind wir auf Syros angekommen. Und: Es ist kalt. Zumindest im Innern der Häuser, in dem ein halber Meter Mauer die Sonne aussperrt, vor der sich die Menschen im Sommer schützen. Wir stehen im Schuppen eines Holzverkäufers und laden die knorrigen Stücke eines alten Olivenbaums in den Peugeot, der uns die letzten 2000 Kilometer verlässlich gefahren hat.
Diesel, Strom, Gas und jetzt Holz: unsere Reise gegen Süden hat vergegenwärtigt, wie Energie mit jedem Kilometer kostbarer wurde. Je weiter unsere Fahrt, desto verlassener die Strassen, desto kälter die Räume und dicker die Jacken der Menschen, die sich darin aufhielten. Die Energiepreise sind hoch und Holz ist auf Syros eine Rarität. Die Insel ist wie die meisten Kykladen weitgehend karg. Eine rauhe, wilde Landschaft, die vom Meer, vom Wind und von der sengenden Sonne geformt wurde.
Es muss etwas mit der Art und Weise zu tun haben, mit der Sandra und der Holzhändler Stück für Stück des Olivenholzes aufheben und behutsam in den Kofferraum schichten, die in mir das lange Leben und die Reise dieses Baumes anklingen lässt, der irgendwo auf dem griechischen Festland verwurzelt war, bevor er mit der Fähre hergeschifft wurde.
Syros zeigt eine Landschaft, die vom Meer, vom Wind und von der sengenden Sonne geformt wurde.
«Bei Homer lässt sich nachlesen, dass die Kykladen grün und bewaldet waren», erzählt Sandra als wir den kargen, weitgehend unbewohnten Norden von Syros besuchen. Homers Erzählung hat Aufforstungsbemühungen inspiriert. Wir begegnen vereinzelt wachsenden Bäumen. Sie sind vom Wind zerzaust und wirken etwas verloren inmitten dieser Welt aus Meer, Geröll und stacheliger Vegetation. Diese Art von Landschaft wird in der griechischen Mythenwelt von Pan gehütet, der in ihr und unter den darin umherziehenden Hirten und ihren Herden für Gleichgewicht sorgt. Zu diesem Gleichgewicht gehören aus dem Blickwinkel der Aufforstung Bäume. Bäume, die im Sommer Schatten spenden und Mikroklimata entstehen lassen.
Sandra sagt von sich, dass sie «schon sehr lange etwas mit Bäumen hat». Und, weil das Leben sie vor mehr als zehn Jahren ausgerechnet auf eine mehrheitlich baumlose Insel führte, wirkt es im Nachhinein naheliegend, dass sie sich den Aufforstungsprojekten anschloss. Obwohl sie damals nichts dergleichen gesucht hatte, begegnete sie Menschen, die ihr zu einer Parzelle Land in der Nähe von Ermoupolis verhalfen, auf der sie die Bewilligung erhielt, Bäume zu pflanzen. Diese Aufgabe, die ihr das Leben zugespielt hatte, nahm sie an unter der Bedingung, dass es ihr damit «leicht und mühelos» gehen sollte. Und es ging leicht, Sandra folgte den Zeichen, Türen öffneten sich, die richtigen Menschen unterstützten sie im richtigen Moment, spendeten Geld, stellten Kontakte her und ein Netz aus ermöglichenden Kooperationen verwob sich rund um sie und das Aufforstungsprojekt «Grüner Atem Syros – Πράσινη Ανάσα Σύρος – Green Breath Syros».
Mit dem Wind gewachsen sind die Bäume, die aufgrund von Aufforstungsbemühungen vereinzelt im Norden von Syros stehen.
Dank dem Regen ist es grün zwischen den Bäumen. Der Sauerklee ist so üppig gewachsen, dass jeder Schritt von einem quietschenden Geräusch begleitet wird. In der dichten Begrünung fällt es mir schwer, die jungen Bäume zu erahnen. Sandra zeigt mir, wo sie stehen, seufzt, wenn sie sieht, dass ein Steckling eingegangen ist und freut sich, wenn sich Ableger gebildet haben. Wir sind auf der zweiten Parzelle, die für die Aufforstung freigegeben wurde und den Namen «Peace Portal – Πύλη της Ειρήνης – Tor zum Frieden» trägt.
Hier wird sichtbar, wie schwierig es für einen Baum ist, auf dem kargen Boden, bei Wind und Wetter zu überleben. Sandra und ihre Gefährt*innen haben aus der Erfahrung gelernt und pflanzen die Bäume nun in Etappen: In einer Reihe zum Meer hin zuerst Tamarisken, die gut mit Wind und Salzwasser umgehen können. Danach, in deren Schutz verschiedene Nadelhölzer, Myrte, Johannisbrotbaum, Ginster, Sukkulenten. «Hier, das ist ein Geduldsbaum», Sandra zeigt auf einen Busch mit fleischigen Blättchen, «zu ihm setzen wir uns, wenn wir einen schweren Tag hatten.»
Heute jäten wir rund um die frisch gewachsenen, dünnen Stämmchen, damit sie gut sichtbar sind und das Bewässerungssystem kontrolliert werden kann. Ohne Wasser keine Bäume. Die zwei Parzellen liegen unterhalb der Kläranlage von Ermoupolis und werden von ihrem Wasser gespiesen. Ein Glücksfall, denn Süsswasser ist kostbar auf der Insel. Mit der Nutzung des Grauwassers, das sonst einfach ins Meer abfliessen würde, wurde die Wasserversorgung für die Bäume in einen bereits bestehenden Kreislauf integriert.
Damit ein junger Baum hier überlebt, braucht er viel Zuwendung und vor allem: Wasser. Sandra jätet beim Geduldsbaum auf der zweiten Parzelle, die sie mit einer Gruppe von Menschen in der Nähe von Ermoupolis aufforstet.
Sobald die strengen Lockdowns in Griechenland allmählich gelockert wurden, ist Sandra oft zu den Bäumen gekommen zum Arbeiten, um aus dem Haus zu kommen und um in Gesellschaft zu sein. Die erste aufgeforstete Parzelle trägt den Namen «Joy of life – Freude am Leben – Χαρά Ζωής». 2016 haben Sandra und ihre Gefährt*innen die ersten Bäume darauf gepflanzt. Inzwischen sind die Schösslinge zu einem kleinen Park herangewachsen, der zum Verweilen einlädt und auch rege genutzt wird, wie die Spuren der menschlichen Besuchenden zeigen. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Bucht liegt Ermoupolis, die historisch bedeutsame Hafenstadt, die einst als mögliche Hauptstadt von Griechenland gehandelt wurde. Die Stadtnähe erleichtert für Besuchende die Zugänglichkeit zu den Bäumen.
Sandra wünscht sich eine dialogische Beziehung zwischen Bäumen und Menschen. Sie wünscht sich, dass die Besuchenden sich an ihre Verbindung mit der Landschaft erinnern und sie nicht bloss nutzen, um darauf zu picknicken und um ihren Abfall zu entsorgen. Auch wenn sie damit Kopfschütteln erntet, weigert sie sich, Abfallkübel zu installieren, weil sie nicht schön sind und weil neben dem Gelände bereits ein grosser Container steht.
Als ich einem schmalen Weg in den kleinen Park hinein folge und mich darüber freue, dass die Zweige einer Goldakazie zu mir herunterhängen, stelle ich mir vor, dass die Herausforderungen, denen Sandra hier begegnete, kaum geringer waren als jene, die dieser junge Baum überwinden musste, um hier zu gedeihen.
Auf der ersten aufgeforsteten Parzelle ist seit ihrer Bepflanzung 2016 ein kleiner Park herangewachsen.
«Wollen wir zum Strand gehen?», Sandra zwinkert Ruth zu und diese scheint begeistert zu sein von der Idee. Unterhalb der aufgeforsteten Parzellen liegt eine kleine Bucht, die für mich mehr nach Müllhalde aussieht. Mich irritiert die Begeisterung der beiden Frauen, als sie sich mit überdimensionierten Kehrichtsäcken und schelmischem Lächeln in Richtung Strand davon machen und ich beschliesse, bei den jungen Tamarisken zu bleiben, die es mir angetan haben. Mit der Zeit wächst meine Neugier, und ich folge den beiden. Von weitem erinnern sie mich an müllsammlende Aktivistinnen, die sich perfekt für eine medial aufbereitete Aktion inszenieren und mit Mahnfinger ins Netz hochladen liesse: Der Strand mit dem Müll liegt im Schatten und dahinter leuchtet das schmucke Ermoupolis mit seinen sauberen Strassen aus Marmor im Sonnenschein. Die beiden Frauen wirken trotz ihrer riesigen Kehrichtsäcken verloren angesichts des Mülls, der hier vom Nordwind angeschwemmt wird. Unmöglich, alles zu entsorgen. Unmöglich, Gewissheit zu haben, ob der gesammelte und mühsam den Hang heraufgeschleppte Müll auch tatsächlich mit einem der überfüllten Container in die Entsorgung gelangt oder ob der Wind ihn gleich wieder davon bläst.
Als ich näherkomme, sehe ich, wie die beiden Frauen mit leuchtenden Augen das Schwemmgut untersuchen. Sie wirken weder wütend noch betrübt, sondern seltsam konzentriert und ja, heiter. Als ich bei ihnen ankomme, klären sie mich auf: Einmal mehr wurden sie vom Strand beschenkt für ihre Zuwendung – vom Meer abgeschliffene Kacheln, die sie oben zwischen den Bäumen zu einem Mosaik legen, alte Netze und Seile, für die sie in ihren Gärten Verwendung haben, Schwemmholz in wundersamen Formen, Plastikteile in allen Farben. Nur Styroporplatten gibt es ausgerechnet heute keine, obwohl Sandra gerade die im Moment gut brauchen könnte für eine bevorstehende Ausstellung. Der Müll legt trotz der Beständigkeit seines Vorhandenseins offenbar eine gewisse Unverfügbarkeit an den Tag.
Sandra und Ruth freuen sich über die Geschenke vom Meer, wenn sie am Strand Abfall sammeln und verstehen sie als Teil der Beziehungen, die sie hier pflegen.
Natürlich wäre es den beiden Frauen lieb, sie würden eines Tages zum Strand kommen und ihn frei von Müll finden. Und natürlich würden sie gerne einfach so den Wäldern beim Wachsen zusehen auf der Insel, mit der sie leben. Aber, bis es so weit ist, pflegen sie Beziehungen zu dem, was da ist, pflanzen Bäume auf Brachen, verwandeln Abfall in Kunstwerke, entsorgen das, was sie tragen können, trinken auf zusammengeschraubten Paletten Kaffee, reden über das Wetter und ihre Leben und leben so die Verwandlung, die sie sich für sich und ihre Mitwelt wünschen.
Ich bin berührt von der Freude, die von den beiden ausgeht, dem «Sowohl», das sie so selbstverständlich mit dem «Als-auch» verknüpfen, dem Ökosystem, das dadurch vielfältig lebendig wird und der Geduld ihrer Handgriffe, die sich dem Rhythmus der Landschaft angepasst zu haben scheinen. Diesem Zusammenspiel kann ich nicht anders begegnen als mit einem Lächeln. Und, es fühlt sich ähnlich an wie vor ein paar Wochen in Sandras Ausstellung oberhalb des Bielersees, als ich ihren freundlichen Kunststücken zum ersten Mal begegnet bin. Hier wurden die von den Gezeiten geschliffenen Plastikteile nach ihren Reisen also angeschwemmt, begutachtet, geborgen und in Gegenüber verwandelt, die mich heiter stimmen.
Infos & Angebote:
Sandra, die nicht nur als Baumhüterin und Kunstschaffende, sondern seit vielen Jahren auch als Wanderreiseleiterin unterwegs ist, hat über Ostern eine Reise auf Syros ausgeschrieben, die in alle ihre Wirkfelder Einblicke gibt. Sie freut sich über Mitreisende und darüber hinaus über Vernetzung auf Facebook oder per Mail.
Sabina Fischer ist Forscherin und Prozessbegleiterin. Sie hütet eine Pension für Frauen im Berner Oberland, altes Handwerk und Prozesse der Renaturierung des Weiblichen. Infos auf www.lachamoise.ch
Fotos (falls nicht anders vermerkt): Sabina Fischer
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Liebe Sabina!
“Verse wachsen auf dem Müll.”
Beim Lesen von deiner Begegnung mit den freundlichen Kunstwerken, die ihren Anfang in angespültem Müll auf einer griechischen Insel haben, ist mir dieser Satz eingefallen. Er stammt von Arno Geiger und steht irgendwo in “Das Glückliche Geheimnis”. Der Autor hat im Laufe seines Lebens regelmäßig Rohstoff für seine Geschichten aus Altpapiertonnen gefischt. Davon und von manch anderen Gewundenheiten des Lebens erzählt er in diesem sehr persönlichen Buch.
Danke für das Teilen deiner Eindrücke dieser Reise in Wörtern und Bildern!
Herzlich,
Maria