Eine Ausstellung, viele Perspektiven
Henriette Stierlin habe ich an einer Veranstaltung kennengelernt. Als Teil einer kleinen Gruppe haben wir einen Tag und eine Nacht im Wald verbracht, um unterschiedlichen Naturbezügen und – beziehungen nachzuspüren. In der abendlichen Feuerrunde und bei strömendem Regen hat Henriette von ihrer Arbeit als Anthropologin erzählt. Mir sind ihre lachenden Augen aufgefallen und die ihre Erzählung durchwirkende Leidenschaft für ihre Arbeit. Ihre Arbeit hat sie in den Gran Chaco Nationalpark nach Bolivien geführt, wo eines der letzten nomadisierenden Völker – die Ayoréo – bis vor kurzem lebte. Die Eindrücke aus Feuerkreisdialog, regennassem Wald, den Erzählungen über die Ayoréo und Henriettes eigener Geschichte begleiteten mich am nächsten Tag mit nach Hause. Wenig später schickte Henriette eine Einladung für eine Ausstellung über das Bienenwissen der Ayoréo im Völkerkundemusem Zürich.
Ayoréode wird übersetzt als Mensch. «Es wird erzählt, dass die Tiere früher Ayoréo waren. Für einen Schamanen sind alle Lebewesen Menschen. Schamanen sehen die grossen und kleinen Vögel, die grossen und kleinen Tiere als Menschen, als Ayoréo mit ihren unterschiedlichen Clans. (…) Jetzt, da die Alten noch am Leben sind, können sie noch erklären, welchen Clans die Tiere angehörten.» So zitiert eine Ausstellungstafel die Worte von Comai Chiqueno. Mit ihm hatte sich Henriette über längere Zeit täglich zum Austausch getroffen. Comais Worte hat sie schliesslich ins Zürcher Museum für Völkerkunde gebracht, wo sie nun ein wichtiger Teil der Ausstellung sind, die sich um das Bienenwissen der Ayoréo dreht.
Henriette zog gemeinsam mit ihrem damaligen Mann Eugenio und ihrem Baby in den Gran Chaco, um das Projekt einer bolivianischen NGO umzusetzen. Die Projektidee: Den Ayoréo eine nachhaltigere Imkerei näher zu bringen. Die traditionelle, nomadisierende Lebensweise im Rhythmus der natürlichen Kreisläufe mussten die Ayoréo im ausgehenden 20. Jahrhundert nach und nach aufgeben, weil ihre Territorien von der Agrar- und Rohstoffindustrie vereinnahmt wurden. Mit der Sesshaftigkeit veränderte sich das Gleichgewicht der Landschaft und die Bienenvölker wurden infolge der immer lokaler werdenden Honigernte der Ayoréo dezimiert. Henriettes Mann, der auf wildlebende Honigbienen spezialisierte Veterinär Eugenio Stierlin, hatte den Auftrag, mit den Ayoréo zusammen eine an die Sesshaftigkeit angepasste Imkerei aufzubauen.
Viele Nester wildlebender Honigbienen befinden sich hoch über der Erde in Baumhöhlen. Foto: Archiv Apoyo Para el Campesino-Indígena del Oriente Boliviano (APCOB) © Völkerkundemuseum der Universität Zürich
Die im Zusammenhang mit dem Imkerei-Projekt entstandene Ausstellung im Zürcher Völkerkundemuseum geht weit über das reichhaltige Bienenwissen der Ayoréo hinaus. In zwei Ausstellungsräumen verweben sich mythologische Weltbezüge der Ayoréo und die darin wichtige Verbindung zu Bienen mit den Geschichten evangelischer Missionare und westlicher Anthropolog*innen, welche die Ayoréo ab den 1950er Jahren intensiv missionierten und beforschten. Die Ausstellung lässt die Besucher*innen zwischen diesen Perspektiven hin und her mäandern. Mein Besuch taucht mich in ein Wechselbad der Gefühle: Mein Herz geht auf ob diesem Reichtum an natur-dialogischen Weltbezügen und gleichzeitig schnürt mir die Empörung ob der Übergriffe von christlichen Missionaren, Anthropolog*innen und Entwicklungshelfer*innen die Kehle zu.
«Als Anthropologin erfuhr ich tiefe Ablehnung und Skepsis», erzählt Henriette als ich sie im Museum wieder treffe von ihrer Ankunft im Gran Chaco 2003. Die Missionare fühlten sich von der Anthropologin bedroht; die Ayoréo hatten genug davon, beforscht zu werden. Henriette erzählt weiter, wie die Missionare ihr den Kontakt zu den Ayoréo verboten und ihre Bewegungsfreiheit so stark einschränkten, dass sie teilweise mehrere Tage ohne Essen verbrachte, weil sie die strikten Essenszeiten der Missionare nicht einhielt. Unterstützung bekam sie von jenen Ayoréo, mit denen sie im Bienenprojekt zusammenarbeitete.
Über die Jahre hinweg baute Henriette Kontakt auf mit Comai, der 1940, unmittelbar vor der Zeit der Missionierung und dem Übergang zur Sesshaftigkeit im Wald geboren wurde. Comai wurde als Kind von einem nordamerikanischen Missionar adoptiert, weil seine Eltern wie viele andere infolge des Kontaktes mit den eingeschleppten Krankheiten starben. Er lernte Spanisch und Englisch und wurde zum vielschichtigen Übersetzer und Vermittler zwischen den Welten. In der Ausstellung ist seine Stimme in Form von Gesprächsauszügen immer wieder präsent und stellt Bezüge zur ayoréoischen Weltwahrnehmung her.
Einblick in die Ausstellung „Ohne Honig hast du nichts zu essen. Über das Bienenwissen von Ayoréode im Gran Chaco, Südamerika“. Foto: Kathrin Leuenberger © Völkerkundemuseum der Universität Zürich
«Die Clans waren in allem sichtbar: in den Pflanzen, den Tieren, in den Liedern. Es gab Lieder, die ganz bestimmten – nicht allen – Clans gehörten. Solche Gesänge im Besitz gewisser Clans werden peáne peái genannt, weil jeder Clan seinen eigenen eái genannten Tanz hat. Jedes Tier gehörte einem bestimmten Clan an, aber daran kann ich mich kaum mehr erinnern. Der Jaguar zum Beispiel gehörte zum Dosapei-Clan. Wenn sie ihn baten, ihnen nichts anzutun, griff er sie auch nicht an. Wenn er mich als Chiqueno um etwas bat, erfüllte ich ihm seinen Wunsch.» (Zitat von Comai Chiqueno (2006) Ausstellungstafel Zürcher Völkerkundemuseum)
Während ich durch die Ausstellung gehe, begleitet mich das diffuse Gefühl, dass diese hier erzählte Geschichte nicht nur die Geschichte eines der letzten nomadisierenden Völker dieser Erde ist. Vielleicht liegt es an der Übersetzung des Begriffs Ayoréode – Mensch. So erlebe ich mich als Zeugin einer Geschichte von Menschen, die zeit- und ortversetzt auch über andere Menschen erzählt wird. «Unsere Sammler-Jäger-Ahnen lebten im nährenden Austausch mit der Natur in egalitären Gesellschaften. Sie waren friedliche und kooperative Wesen.», schreibt Hans-Peter Hufenus in seinem kürzlich erschienenen Buch «Urmensch, Feuer, Kochen».
Verbindet uns mehr mit den Ayoréo als die Geschichte von Macht, Unterdrückung und Ausbeutung, die unser kollektives Erbe bis heute auf so unterschiedliche Art und Weise prägt? Ist es legitim oder vielleicht sogar wichtig, wenn wir Nachkommen eines historischen Erbes weisser Invasoren, Missionare, Wissenschaftler*innen und Landeigner*innen danach fragen, was uns als Menschen – als Ayoréo – gemein ist, wenn wir auf die asynchrone Verlusterfahrung des nährenden Austauschs mit unseren natürlichen Umgebungen schauen?
Diese Gedanken begleiten mich, als ich die Ausstellung verlasse und durch den Garten vor dem Museum gehe, wo gerade die Sonne auf den Seerosenteich scheint. Zu Hause, als ich mich frage, wie sich meine teils verworrenen Empfindungen beim Ausstellungsbesuch in Worte fassen lassen, erinnere ich mich an ein Gedicht von Thích Nhất Hạnh, das diese viel(ge)schichtige Identifikation so gut beschreibt, die ich empfinde und ich bin dankbar, dass die Ausstellung diese Vieldeutigkeit angeregt.
Die Ausstellung «Ohne Honig hast du nichts zu essen – Über das Bienenwissen von Ayoréode im Gran Chaco, Südamerika» im Völkerkundemuseum der Universität Zürich kann bis Ende Januar 2022 besucht werden.
Sabina Fischer ist Forscherin und Prozessbegleiterin, fasziniert von unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Welt und den Horizonten, die sich durch Perspektivenwechsel erschliessen. Weitere Infos
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