Von Randräumen, Grenzüberschreitungen und Tiersinn
Eigentlich hatte ich an Hirsche und Rehe und vielleicht Füchse, Dachse und ja, natürlich Wölfe gedacht. Solche Tiere kamen mir in den Sinn, wenn ich mir wünschte, sie besser zu verstehen, ihre Sprache zu lernen. Ich habe mir ihr glänzendes Fell, ihre imposanten Geweihe, die scharfen Zähne und wachen Sinne vorgestellt. Wild und schön erschienen sie mir, wenn sie in meinen Träumen und manchmal tatsächlich auch vor meinem Haus auftauchten. Inzwischen hat meine Beziehung zu Tieren Wendungen genommen, die ich mir nie erträumt hätte.
Ich lebe seit ein paar Jahren am Rand eines Bergdorfes, zwischen Dorf und Wald. Diese Randzone ist weder Linie noch Grenze und begegnet mir als besonderer Raum des Übergangs. Ich belebe ihn mit anderen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Bewohnenden, die darin ihren täglichen und nächtlichen Bestimmungen zwischen Dorf und Wald nachgehen.
Vielleicht ist es die Faszination für diesen Randraum, die mein lang gepflegtes Interesse für Perspektivenwechsel und andere Wahrnehmungsformen wieder einmal über die menschliche Welt hinauswachsen liess. Oder es war dieses Gefühl, auch in Abwesenheit von Menschen in guter Gesellschaft zu sein, das hier in mir und um mich herum gedieh und mein Bedürfnis nährte, mit dieser Umgebung engere Beziehungen zu pflegen. Insbesondere mit den darin lebenden Tieren. Sie waren es, die mir Zeichen und Hinweise hinterliessen, mich zum Spiel einluden und mir Rätsel aufgaben. Staunend und schmunzelnd wurde mir bewusst, dass ich es mit Gegenübern zu tun hatte, die viel mehr über meine Anwesenheit zu wissen schienen als ich über ihre. Die Art und Weise wie Dinge verschwanden und wieder auftauchten, wie haarige und gefiederte Nachbarinnen an Scheiben und Türen klopften, über Schwellen ins Haus spazierten, es sich bequem machten und mich überraschten, wie sie sangen, knurrten und bellten, liess meine Zweifel schwinden, dass sie tatsächlich mich ansprachen, mich meinten.
Oft war ich betroffen, wie begrenzt und grenzsetzend meine sozialisierten Reaktionen auf diese Ansprachen waren, wie schwer es mir fiel, in meinem Verhaltensrepertoire Worte und Bewegungen zu finden, die meinen Gegenübern gerecht zu werden schienen. Mit dem Haufen von entsorgten Sprech- und Verhaltensweisen, die ich für meine Situation unangemessen fand, wuchs meine Frustration. Wieso fand ich so wenig Möglichkeiten, meinen tierischen Gegenübern weder disziplinierend noch verniedlichend zu begegnen?
Weder «Jöö, wie süss!» noch «Iii, wie eklig!», schienen mir für die Beziehungspflege in meiner Randzone angebrachte Interaktionsangebote zu sein. Zwischen Füttern, Streicheln und Totschlagen gähnte mir eine Verhaltensödnis entgegen, in der mir die Orientierung offensichtlich abhanden gekommen war. Inzwischen gelingt es mir ein wenig besser, dem Fuchs, den Hasen, den aus der Zeit gefallen zu scheinenden Kröten, die in mir ein Gefühl anklingen lassen, für das ich noch die passenden Worte suche, und sogar den Spinnen, deren Netzwerke ich regelmässig wegwische, differenzierter zu begegnen.
Nun haben meine Tierbeziehungen Wendungen genommen, die mich erneut herausfordern. Angefangen hat es mit dem Biss einer Zecke. Diese Zecke hatte sich so tief in meine Haut hineingesogen, dass ich nur einen Teil von ihr herausziehen konnte. Obwohl es kaum sichtbar war, fand ich es unheimlich, ihr Beisswerkzeug unter meiner Haut zu wissen. Und ungeheuerlich, dass ein so kleines Tier diese Kraft besass, sich festzubeissen, um mein Blut zu trinken. Im Internetz sind Zecken unbeliebt. Sie werden auf stark vergrösserten Bildern präsentiert, worauf sie nicht minder schaurig aussehen, als die Untertitel sie beschreiben: «Bestien», «Plage», «gefährlich», «Blutsauger, die Krankheiten übertragen», steht da. Eine als Feststellung getarnte Frage fand ich besonders interessant: «Ich weiss wirklich nicht, wofür sie nützlich sein sollen». Ja, wofür sind Zecken «nützlich»? Was ist ihre Aufgabe? Wofür sind sie zuständig? Und, sind das überhaupt die richtigen Fragen, um ihr Wesen zu verstehen oder beschreiben sie in erster Linie unseren verzweckenden Blick auf die Welt?
Die wenigen Informationen jenseits der Schauergeschichten, die im weltweiten Gruselkabinett zu finden waren, stellen Zecken evolutionär gesehen als uralt dar. 100 Millionen Jahre. Sie gehören also zu unseren Ahninnen und begleiten uns, seit es uns gibt. Und, sie geben Rätsel auf. Weil sie so alt sind, so die zweckorientierte Logik, müssen sie einen Nutzen haben, eine regulierende Funktion im Ökosystem. Sie fressen und dienen als Nahrung, schwächen und stärken Immunsysteme, so viel weiss die Evolutionsbiologie über diese Tierahninnen. Was noch? Ich fragte mein Umfeld. Mehr Schauerliches. Und dann fand sich auf einmal eine Bekannte, die von Zecken fasziniert ist. Weil sie so zäh sind. In einer Krankheitsphase waren Zecken ihre Vorbilder: «Ich muss jetzt stark sein wie eine Zecke», habe sie sich damals gesagt. Das habe ihr geholfen. Eine andere Freundin schickte mir dieses Märchen. Es erzählt von einer Zecke, die den Menschen eine wichtige Botschaft über ihre zyklische Verwandtschaft mit dem Mond überbringen sollte. Sie scheiterte an ihrer Aufgabe und die Folgen waren fatal. Diese beiden Geschichten veränderten meinen Blick auf Zecken, liessen mich mit anderen Augen schauen und damit andere Facetten sehen.
Als das nächste Mal eine an mir hochkrabbelte, fragte ich sie in Erinnerung an das Märchen, mit welcher Botschaft sie gekommen war. Plötzlich wurde sie zum Gegenüber. Zum Du. Leider verstand ich sie überhaupt nicht, dafür reichte mein bescheidenes Verhaltensrepertoire, das ich mit den Füchsen, Hasen, Kröten und Spinnen aufgebaut hatte nicht aus.
Die Zecke blieb eine ganze Weile unbeweglich auf meinem Handrücken und bewegte sich dann sehr, sehr langsam. Natürlich hätte ich eine Menge in sie hineinlesen oder «Zecken als Krafttiere» googeln können. Ich liess es bleiben. Dennoch sah ich sie irgendwie anders. Für eine Bestie erschien sie mir erstaunlich klein und wirkte auf mich in diesem Moment auch nicht besonders bedrohlich. Mir wurde klar, warum sie im Märchen auf den Hasen angewiesen war, um weite Strecken zurückzulegen.
Trotzdem liess ich mir Antibiotika verschreiben, als der rote Kreis rund um meinen Zeckenbiss wuchs. Und, diese Kur brachte meine Beziehung zu Tieren auf ein nächstes Level und meine Aufmerksamkeit zu dem, was sich im Innern meines Körpers, unter der Haut, abspielt. Sie liess mich deutlich spüren, welch ausgeklügeltes Ökosystem ich bin. Weil die Medizin, die ich einnahm, pauschal «anti» ist, war sie unfähig, zu unterscheiden, welche Bakterien meinem Ökosystem nützen und welche schaden. Sie brachte alles durcheinander, und ich kriegte in den folgenden Wochen Besuch von allerhand Pilzen und Bakterien, die sich eher unangenehm anfühlten. Erstaunlich, wie lange es dauerte, bis alles wieder einigermassen ausbalanciert schien. Während mein Körper die Balance suchte, tauchten neue Aussichten an meinem Denkhorizont auf. Auf eigenartige Weise wurde mir bewusst, wie Viele ich bin. Nicht nur viele Ichs und die damit verbundenen Zustände, sondern eben auch viele Andere. Oder sollte ich sagen Dus? Meine Grenzen zwischen Du und ich, Hier und Dort, wurden gerade neu verhandelt.
Hier, in der Randzone, in der ich gemeinsam mit Anderen meinem Tag- und Nachtwerk zwischen Dorf und Wald nachgehe, bin ich nicht nur Mittier in einem Ökosystem. Ich bin gleichzeitig auch ein Ökosystem. Und, ich kann das so sagen und auch denken, ja, vielleicht sogar wissen. Dennoch fühle ich mich meilenweit davon entfernt, es zu verstehen, zu begreifen, was es bedeutet, obwohl ich es ganz selbstverständlich verkörpere. Oder sollte ich sagen, davon verkörpert werde. Meine Sprache scheint mir unzulänglich, um zu beschreiben, was mir geschieht. Insbesondere, weil mich schon wieder neue Andere besucht oder vielleicht eher, heimgesucht respektive besiedelt haben. Wieder sind es alte und enge Weggefährtinnen von Menschen. Keine Katzen. Keine Hunde. Es sind sehr kleine, ungeliebte und vielleicht, ja bestimmt, auch missverstandene Tiere, Meisterinnen im sich anpassen, sich verstecken und unbemerkt bleiben.
Welche Botschaft sie überbringen, weiss ich nicht. Aber ich habe viel Zeit, darüber nachzudenken, während ich Strähne für Strähne meine Haare auskämme und versuche, ihnen auf die Schliche zu kommen.
Sabina Fischer ist Forscherin und Prozessbegleiterin. Sie hütet eine Pension für Frauen im Berner Oberland, altes Handwerk und Prozesse der Renaturierung des Weiblichen.
Fotos: Sabina Fischer
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