Wasserwege: Die March – Teil 1
Die March am Grenzübergang Hohenau-AT/Moravský Svätý Ján-SK. (Foto: Babs Matter)
Ich staunte nicht schlecht, als ich am Morgen nach dieser heftigen Blitz- und Donnernacht, die Fenster zum Wackeln gebracht und den Strom hatte ausfallen laßen, den Garten betrat. Der junge, doch schon stattliche Apfelbaum war unter der Last von drei reifen Äpfeln in eine gar bodennahe Schieflage geraten. Die schnurgeraden, himmelwärts gewachsenen Zweige zeigten nun in Richtung des Marchflusses, aber auch in die Richtung, wo üblicherweise im Sommer die Sonne aufgeht.
Was ist mit dem Apfelbaum los? Ist der Saft in den Äpfeln über Nacht durch schweres Wasser angereichert worden? Haben auch schon Äpfel Probleme mit „Loslassen“? Stimmt das mit dem Newton, dass reife Äpfel senkrecht von Bäumen auf die Erde fallen, auch nicht mehr? Sind die neuesten Veredelungsunterlagen so gezüchtet, dass sie bei Reife zur bequemeren Ernte den Baum auf Arbeitshöhe biegen? Oder ist der Baum vor lauter Angst umgefallen? Nach dieser Nacht wäre das auch wenig verwunderlich. Letztendlich stimmte dieser Baum seit heute Morgen nicht mehr exakt mit meinen Vorstellungen von gestern überein.
Baum in Schieflage.
In der gleichen Nacht ist auch ein Großteil meiner noch nicht vollständig geernteten Kartoffeln vom Acker geschwommen. Ein sintflutartiger Erosionsabfluss aus mehreren Richtungen eines weitläufigen, baumlosen Gebietes hat mein Feld bis auf den knochigen Unterboden weggespült. Zuviel Wasser in zu kurzer Zeit und ein wegen einer längeren Trockenphase nicht mehr aufnahmefähige Boden bildeten das dramatische Zutatenpotpourri zur falschen Zeit. Weil jedes Jahr anders ist, ist es nicht ungewöhnlich, dass mindestens eine der angebauten Kulturen flöten geht, aber in dieser Art hatte ich das auch noch nie. Der Teufel holt sich Seins, sagt man dann, und alles hat wieder seine Richtigkeit. Es tut gut eine Erklärung für das Unvorstellbare zu haben. Es erinnert auch daran, welch großes Geschenk eine gute Ernte ist. Und ja, Geschenke verbreiten Freude! Wäre es so, wenn alles ausnahmslos verfügbar wäre?
Verbliebene Kartoffel-Flutopfer mit schwerem Sonnenbrand; einige Tage danach.
Die ersten Kartoffeln werden wahrscheinlich schon das Schwarze Meer erreicht haben oder gar auf einem Schwarzmeerstrand in der Sonne liegen. Zu lange träumten die heurigen Kartoffeln den Traum von Freiheit da unter der Erde und nutzten gleich die erstbeste Gelegenheit, um aus einem allzu vorgezeichneten Schicksal in irgendeinem finsteren, heimischen Kochtopf zu entrinnen. Ja, das Unvorstellbare ist gelegentlich nicht vorstellbar.
Es könnte auch sein, dass, weil ich die Blätter der Kartoffeln mit einer Spur Meersalz (zur Spurenelement- und Geschmacksaufbesserung und Rückabwicklung einer äonenalten Landerosion/Auslaugung in Richtung Meer) gefüttert hatte, sie auf den Geschmack gekommen waren, sich falsche Vorstellungen gemacht und sich möglicherweise deshalb gleich so überstürzt auf die Reise gemacht haben, um sich ihren Traum, eine Salzkartoffel zu werden, baldigst zu erfüllen. Ganz ungekocht! Es ist nicht immer alles richtig was richtig ist.
Ach ja, es gibt Kartoffeln, die im Meer wachsen (sea potatoes), auf Deutsch heißen sie Herz-Seeigel. Wie schön…
Als ich vom Feld nach Hause kam, blickte ich wegen dieses blöden Apfelbaums wieder in Richtung March. Und sogleich schlitterte mein Hirn in kafkaeske Dauerangstbefürchtungsabgründe.
Wie viele Grenzen haben die Kartoffeln unverzollt überschritten, wie viele der derzeit verhängten Seeblockaden haben sie dabei wohl verletzt? Komme ich vor ein marines Militärgericht?
Hui…habe ich da vielleicht die zwei neuen Augen, die Sentinel-Satelliten, vergessen? Errechnet die digitale Kontrolle, dass das vorgeschriebene Erosionsschutzprogramm, für das ich ja selbst auch Subventionen bekomme, niemals etwas bewirken kann? Könnte ich dafür sanktioniert werden? Ob sich meinetwegen russische und ukrainische Soldaten auf Befehl gegenseitig mit Kartoffeln bewerfen müssen?
Nein, Stopp! Da werkelt etwas… Alles nur alte Erinnerungen, Bilder aus der Kindheit. Ja, ja die March, und lächelte….
Es ratterte dann doch weiter…
Ja vielleicht gibt es Waffen für den Frieden? Hat nicht irgendwer bei einem gemütlichen Picknick im Jahr 1989 mit der Gulaschkanone ein kleines Loch in den Vorhang geschossen, wonach eine Flut aus dem abgemauerten Teil des Zuschauerraumes losbrach, etliche berühmte Schauspieler zu Sturz kamen, worauf letztendlich die gesamte damalige Weltbühne gefallen ist? (Das Paneuropäische Picknick im Video, für all jene, die danach geboren wurden)
Es existieren allerdings keine bestätigten Hinweise, ob es sich zu gegebem Zeitpunkt tatsächlich um Kartoffelgulasch gehandelt hatte. Der Konsum von Bier gilt hingegen als dokumentiert. Alle danach geplanten Vorstellungen fanden nicht mehr statt, aber das hätte sich sowieso keiner mehr ansehen wollen, die aufgeführten Stücke waren stets die gleichen und todernst (ein Beispielvideo).
Naja, weil es in meiner derzeitigen Situation nichts mehr zu retten oder wegen des vielen Schlammes gar zu tun gäbe, bietet sich ein guter Anlass, sich nun doch dem Jahresthema „Wasserwege“ zu widmen. Eine persönliche Umstandsgeschichte also.
Die meisten der verschwundenen Kartoffeln haben, bevor sie hohe See erreicht haben, den nächstgelegenen Fluss, die March, genommen. (Aufnahmen von der March am Dreiländerdreieck. Privataufnahme Wende an der March Dezember 1989.) Mehr dazu in Teil 2…

Franz Schweinberger ist Landwirt.
Fotos, wo nicht anders vermerkt: Franz Schweinberger

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Lieber Franz, herzlichen Dank für Teil 1 der March. Wie so oft in deinen Beiträgen, verbinden sich persönliche Erfahrung, Weltenmoment, Fachwissen und historische Bezüge. All das immer auf eine Art, dass ich ich nicht weiss, ob ich über das darin enthaltene Tragische weinen oder lachen soll und oft wechselt es mitten im Satz. Verbliebene Kartoffelflutopfer mit schwerem Sonnenbrand, sind so ein Moment. Mir scheint, so viel Aktuellen steckt in diesen wenigen Worten!
Liebe Habiba! Vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar. Zu deinen Worten ist mir dieses griechische Sprichwort eingefallen: Weder die Erde blüht ohne Regen, noch die Seele ohne Tränen.