Ein besonderer Wintertag
Heute wird unser „Jüngster“ 18 Jahre alt. Wie wunderbar. Es ist kalt draussen, klirrend kalt, fast wie damals, vor achtzehn Jahren, als wir noch einen morgendlichen Spaziergang mit ihm, wohlbehütet im runden Bauch, unternahmen. Die Eisspitzen der Sträucher am Wegrand waren eindrücklich, kecke kleine Kristalle, die das Licht in viel Farben zersplitterte. Ein besonderer Tag, damals, die Freude und Zuversicht war greifbar, alles war ruhig und wartete auf die Geburt. Später dann eine kurvige Fahrt ins Tal, in die Klinik, jede Kurve ein doppeltes Wagnis: Bleibt er lange genug im Warmen… und kommen wir gut durch die Kurven, ohne in den Graben zu rutschen…Irgendwie passte die Klarheit des Wintertags sehr zu diesem neuen Menschenkind. Aufmerksam, genau, entschieden. Drei Stunden später waren wir schon wieder zu Hause…
Heute also wieder ein Wintertag, sonnig, freudig – und dankbar. Für unsere Kinder, für unseren Jüngsten – der heute seine Kindheit verlässt und uns nun rundum zu Eltern von jungen Erwachsenen macht. Und damit unseren Blick einmal mehr weitet und frei macht für die grösseren Kreise: Was steht an? Was hat sich verändert in achtzehn Jahren, wo braucht es uns heute?
Ist es der Zeitgeist – oder schlicht das Alter, das uns sensibler macht für die grossen Veränderungen, die sich überall zeigen? Gestern erst konnten wir in nature [1] lesen, was sich verändert hat:
„Die Masse weltweit von Menschen hergestellter und gebauter Dinge könnte einer Schätzung zufolge in diesem Jahr erstmals die Masse aller Lebewesen der Erde übertreffen… Dies bedeute, dass für jeden Menschen auf der Welt in einer Woche Objekte geschaffen werden, die etwa seinem Gewicht entsprechen.“
Von nun an heisst es also reduzieren. Auf Wesentliches konzentrieren. Entrümpeln. Entschleunigen. Enkeltauglich leben. Für Menschen wie uns, die alles haben, ist das vielleicht nur eine Frage der Bequemlichkeit. Was aber bedeutet das für die Mehrheit der gut 7 Milliarden Menschen? Haben die nicht auch einen natürlichen Impuls, ein wohliges Nest zu bauen für ihre Kinder, mit dem Wunsch, ihnen alles erdenklich Gute dieser Erde zukommen zu lassen? Und selbst wenn wir alle ab heute nur noch ökologisch unbedenklich, fair, sozial und menschenwürdig konsumieren… kann das gelingen, ohne ein Kippen der Natur zu erleben? Wie schön, dass ich mit diesen Fragen nicht alleine bin! Es steht uns eine grosse, wirklich grundsätzliche Veränderung bevor – und wir sind alle aufgerufen, daran mitzuwirken. Stark auf den Punkt gebracht hat das Maja Göpel [2] schon vor gut 18 Monaten in Taz-Futurzwei:
„Drei Aspekte scheinen besonders relevant, wenn wir die Grundsatzfragen auf einer tieferen Ebene beantworten wollen:
1. Unsere Architektur der Aufmerksamkeit de-ökonomisieren und Klarsicht schaffen.
Wachsende Geldwerte können nicht weiter als Äquivalent für positive Entwicklung und erfolgreiches Leben stehen. Wertschöpfung ist viel mehr als das, und die Frage der Zukunft lautet: welche Werte wollen wir erhalten, welche zukünftig schöpfen, wie Lebenschancen verteilen? Und welche Indikatoren und welche ökonomischen Konzepte drücken das aus? Bisher scheiterten alle grösser angelegten Projekte zur differenzierten Messung von Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität – warum?
2. Die Entwicklungsnarrative dem menschlichen Potenzial anpassen und Freiheit erhalten.
Menschen haben genauso viel Potenzial zum Egoismus wie zum Teilen, werden jedoch in der Homo-oeconomicus-Kultur einseitig trainiert. Lebensqualität und sozialer Zusammenhalt leiden unter zu viel Konkurrenzdruck und unersättlichen Erfolgsdefinitionen. Die Frage der Zukunft lautet: Wie können Bildung, Karrierewege und Marktstrukturen einem Homo vitalis Chancengleichheit einräumen? Bisher ist eine Vision des Genug oder der Suffizienz kulturell nicht erwünscht oder scheint strukturell nicht möglich – warum?
3. Ökonomische und technologische Lösungen mit Natur und Mensch rückkoppeln.
Die Vision, das BIP-Wachstum vom Umweltverbrauch zu entkoppeln, belässt die strategische Aufmerksamkeit weiter auf dem Mittel, anstatt sie auf den Zweck zu lenken. Systemische Innovationen denken soziale, ökologische, kulturelle, ökonomische, technische und politische Entwicklungen in ihrer Interaktion zusammen, womit die Frage der Zukunft lautet: Wie können ökonomische, politische und technologische Lösungen mit menschlichen Bedürfnissen und Naturgesetzen gekoppelt werden, und welche Anreize und Koordinationstechniken ermöglichen das?
Das sind, finde ich, gute Fragen, die unsere Ausrichtung neu orientieren und in denen ich auch Kern-Elemente des Natur-Dialogs erkenne:
Dem Leben – in allen Dingen! – Aufmerksamkeit schenken und Entwicklung als Selbstzweck kritisch hinterfragen.
Wie wertvoll ist mir der Wald, der Fels, der Bach und die Beziehung zu Ihnen geworden, seit ich Zeit in der Natur verbringe, mit der Natur in Kontakt gehe. Wie anders als in monetären Massstäben bemesse ich diese Lebensräume, die mich lebendig machen und mir ihre Kreativität und Schönheit ohne ein Preisschild zeigen. Naturdialogische Streifzüge fördern den Blick auf das Vorhandene, das in mir und in dem Leben, in das ich eingewoben bin, zeitlos vorhanden ist. Ich finde ein präsentes Genügen, das mich Innehalten lässt, mich nährt und stärkt, und damit auch mein Menschenleben in Bezogenheit zur mehr als menschlichen Welt um mich herum begreifen lässt. Eine unmittelbare Verbundenheit, die sich als Erfahrung in meinen Körper und meine Gefühle einnistet und mir hilft, Schritt für Schritt, mein ökologisches Sein zu leben.
Da gehe ich mit – und weiss auch, wozu: Für meine Kinder – und für deren Kinder, die vielleicht schon auf einen Wintertag wie den heutigen warten.
Fussnoten

Michael Heim engagiert sich als Organisationsberater und Coach rund um das Thema “Nachhaltige Lebensführung”. Infos unter www.nature-and-progress.de
Titelfoto: Les Anderson

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