Sympoiese
„Wir müssen die zirkulären Prozesse an eigener Haut wieder erfahren. Idealerweise nicht erst dann, wenn wir sterben, sondern vorher, um zu begreifen, wie wir unser Leben auf der Erde gut leben können.“
Am Sonntag, 19. September erscheint bei Carl-Auer das neue Buch von Astrid Habiba Kreszmeier. “Natur-Dialoge. Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik.” Die Buchvorstellung ist Teil des Forums “Brachen-Sympoiese”, welches am Samstag, 18. September in den spannenden Zwischenraum der Stadionbrache Zürich einlädt. Sinha Weninger hat mit Habiba über ihr Buch, solche Zwischenräume und politische Verantwortung von Fachpersonen in Beratung, Coaching und Therapie gesprochen. Teile des Gesprächs sind auch als Video verfügbar.
Sinha: Herzlich willkommen, Habiba, zu diesem Gespräch über Dein neues Buch. Meine erste Frage muss fast lauten: Wo bist Du gerade?
Habiba: Ich bin hier, wo ich auf das Buch geschrieben habe, nämlich in meiner oder unserer Schreibstube in der Ostschweiz. In einer Dachstube, die mir den Blick gibt auf das Rheintal und die dahinterliegenden Berge, die sich jetzt auch grad ein wenig verstecken im Dunst. Und tatsächlich habe ich das Buch hier geschrieben und habe auch mit dem Ort begonnen beim Schreiben. Eine der Grundideen dieses Ansatzes ist es darauf hinzuweisen, dass nichts ohne den Ort geschieht, an dem wir real sind. So selbstverständlich das klingt, so selbstverständlich das sein mag, so sehr scheint mir jedoch, geht diese Idee verloren. Ich erlebe in ganz vielen Ansätzen und Schulen eine Welt, in der Individuen gewissermassen eingekapselt sind in irgendetwas, das eigentlich gar nichts damit zu tun hat, wo sie gerade sind. Also die Idee, dass der Raum, in dem wir uns bewegen auch wirklich Relevanz hat, die ist teilweise einer eher astronautischen Bewegung im Raum gewichen.
Und das ist sicher ein grosses Anliegen gewesen in diesem Ansatz: darauf zu verweisen, dass Gesundheit und damit auch die Begleitung von Gesundheitsprozessen, die Beratung, die Entwicklung ganz massgeblich zu tun hat mit dem Raum und mit den Bedingungen und den Strukturen dieses Raumes. Das wieder aufzugreifen und von dieser Seite her auf Beratung zu schauen, darum geht es.
Sinha: Dieser Raum, der da so mitspricht, damit meinst Du den physischen Raum, den Ort, die elementaren Bedingungen, die anderen Menschen und die Dinge, die konkret rund um mich sind?
Habiba: Ich meine wirklich die irdische Materie samt dem, was wir natürliche Existenzen oder Materie nennen, die eine Eigenlebendigkeit haben. Aber ich meine auch menschengemachte Materie, die uns umgibt. Die ja auch ihre Wirkung hat. Jeder von uns weiss, dass man sich in einem Flughafen oder einem Bahnhof, der völlig beschallt ist, anders fühlt als in einem Wald. Das sind völlig andere Bedingungen und es gibt auch innerhalb von menschengemachten Raumen jene Raume, die mit Materialien und Sorgfalt ausgestaltet sind, die einem die Möglichkeit geben in Ruhe wahrzunehmen, wo man überhaupt ist. Und es gibt aber auch Räume, die mit belasteten, schwierigen und nicht atmenden Materialien ausgestattet und überladen mit Information sind. Ich will sagen auch menschengemachte Räume haben ein grosses Unterschiedspotential. Wenn ich von Raum spreche, dann rede ich nicht von irgendwelchen möglichen Geistern oder unsichtbaren Kräften, die in diesem Raum wirken – die mag’s ja geben – aber mich interessiert die Erinnerung und Wiederverbindung mit dem Ort als ganz konkrete – ohnedies schon wundersame – Existenz von allem Lebendigen.
Und dafür wieder einen Blick zu bekommen und das für etwas Wichtiges zu halten in unserer Entwicklung, darum geht’s mir und das habe ich auch versucht zu beschreiben.
Sinha: Die Vorstellung des Buches ist am 19. September im Rahmen einer Veranstaltung, die heisst “Brachen-Sympoiese”. Magst Du zum Raum der Brache etwas erzählen und vielleicht ist es ja auch nicht nur Zufall, dass die Buchpräsentation mit diesem Raum verbunden ist?
Habiba: Es ist immer die Frage, wieviel ist Zufall und wieviel fügt sich. Ich spreche gerne und viel von Fügungen, doch diese Fügungen, die fallen natürlich nicht vom Himmel. Die stellen sich auch ein, wenn wir unsere Aufmerksamkeiten in einer gewissen Art und Weise führen. Also zu den Brachen sind wir in einem Weiterbildungsmodul im Feld der Tiefenmythologie in Griechenland geführt worden, auf der gar nicht so einfachen Suche nach einem guten Ort. Nach einigem Suchen waren wir auf einem grossen, grossen, grossen, wunderschönen Kiesstrand gelandet, der schon fast afrikanische Steppenlandschaft im Hintergrund hatte. Und dahinter hat sich eine riesige Hotelruine, eine Hotelbrache aufgetan. An diesem Ort haben wir so viele schöne Geschichten und Stimmungen und Prozesse erlebt, dass uns dieser Brachen-Raum als grosses Potential deutlich geworden ist.
Und das wissen wir alle, wir leben, zumindest in unseren sogenannten westlichen Ländern, in einer Welt, die keine Brachen zulässt. Brachen haben sozusagen keinen Platz in unserem Optimierungs- und Effizienzverhalten neoliberaler Couleur. Wenn es eine Brache gibt, dann ist es bestenfalls eine Spekulations-Brache. Bestenfalls dann überlässt man den Raum mal eine gewisse Zeit lang sich selbst. Was auch eine alte Weisheit der Landwirte ist. Die wissen natürlich, dass die Böden auch Pause brauchen, dass sie Selbstregulations-Zeiten brauchen, dass sie eine Zeitlang nicht in einer bestimmten Art und Weise bewirtschaftet werden, damit sie sich erholen und damit sie sich wieder anders versamen, befruchten und sich wieder neu in den Zyklus des Landes einfügen können. Aber diese Weisheit des Brachlandes, die haben wir ja weitestgehend verloren.
Wenn es darum geht, einen Raum möglichst zu konservieren, weil dann vielleicht ein grosses Geschäft darauf möglich ist, dann gibt es Brachen. Und um ganz ehrlich zu sein, die Zürcher Stadionbrache, wo ja das Forum stattfindet, die ist seit 10 Jahren Brache und die wird aufgrund der politischen Strukturen vielleicht noch einmal 10 Jahre Brache sein. Die ist eine politische und auch eine Spekulationsbrache. Weil irgendwann wird dort etwas hochgezogen werden im grossen Stil. Aber, es ist jetzt ein spannender Zwischenraum, der erlaubt, dass dort mal nicht etwas zielorientiert und optimiert, durchgerechnet und bilanziert auf die Beine gestellt wird, sondern dass da auch eine Art Sozial-Brache gewachsen ist, die über viele Selbstorganisationsprinzipien und Möglichkeiten des Unterstützens vor Ort ganz viele Räume für Menschen und Initiativen gelassen hat, die anderenorts keinen Platz haben. Also wir haben hier ein schönes Beispiel sowohl von einer natürlich-biologischen Brache, aber auch einer menschlich-kulturellen Brache, im Sinne vom sozialen Zusammenleben zwischen Menschen und Raum. Ein Beispiel wie wertvoll und wie wichtig Brachen sind.
Organismus und Umwelt gehören immer zusammen
Das ist Grundidee auch der Sympoiese, ein Begriff, zu dem mich Donna Haraway mit ihrem Buch “Unruhig bleiben” geführt hat. Haraway ist Biologin und Wissenschaftshistorikerin, ökologisch orientierte Feministin oder wie auch immer man dieser verrückten Denkerin und Vernetzerin sagen will. Sie hat diesen Begriff [1] aufgegriffen und hat ihn ins Zentrum der Idee gestellt, dass wir Sprache finden müssen dafür, was Leben eigentlich ist. Und aus der Biologie kennen wir, und das ist dann auch sehr stark eingeflossen in die systemische Therapie und Beratung, kennen wir ja den Begriff der Autopoiese. Die von Humberto Maturana und Francisco Varela [2] damals als eine Matrix des Lebendigen definiert wurde. Also diese zirkuläre Organisation, die eigenlebendige Wesen an sich haben. Sie funktionieren auf eine Art und Weise, sich selbst zu erhalten und das in einem zirkulären Wechselprozess.
Sympoiese verweist auf diese ineinandergreifenden Prozesse, in denen eine Umwelt gestaltet wird vom Organismus und der Organismus gestaltet wird von einer Umwelt. Das Angebot des Buches ist eine Aufmerksamkeitsverschiebung dahin, wie diese ständige Co-Kreation von allem Lebendigen, aber eben auch von Menschengemachtem funktioniert. Unsere Maschinen sind ja verdammt ko-kreativ mit uns. Das ist ja nichts rein Einseitiges mehr, die greifen ganz stark in unser Verhalten und unser Kommunikationssystem ein. Also das will der Begriff der Sympoiese: Darauf zu schauen, wie entsteht dieses miteinander-Tun, dieses miteinander-Werden.
Und es ist ein gewisses Wagnis in einem systemischen Feld neben der Autopoiese einen zweiten Begriff, jenen der Sympoiese zu lancieren. Und ich bin dankbar, dass der Carl-Auer Verlag sich auf dieses Wagnis einlässt und wir werden sehen, ob das überhaupt jemand aus diesem Feld aufgreift, bemerkt oder zur Diskussion stellt.
Autopoiese ist aber als Begriff – und das kommt ja auch aus 80er und 90er Jahren, ganz stark mit dem Fokus des Individuums belegt. Die Autopoiese schaut auf das Individuum. Wie macht es das Individuum, dass es sich erhält und dass es die Grenzen schützt und dass es sich abgrenzt und dass es sich anpasst? Aber auch Maturana gemeinsam mit seiner Partnerin Ximena Dávila in ihrer Organisation Matríztica kamen gewissermassen an den Punkt, dass sie gesagt haben: Eigentlich, genau genommen ist es ein Fehler von einem Organismus und einer Umwelt zu sprechen. Weil genaugenommen gehören die immer zusammen und es entsteht alles aus dem Zusammenspiel. Also nicht die Autopoiese macht das Leben, sondern die Sympoiese macht das Leben.
Sinha: Was wünscht Du Dir oder wünscht Du Dir auch nicht, wenn jetzt eben Dein Buch, Natur-Dialoge und auch der Begriff der Sympoiese in dieser systemischen Landschaft erscheint?
Habiba: Was ich schön fände ist, wenn viele verschiedene Stimmen beginnen könnten in diesem Feld miteinander ins Gespräch zu kommen. In der Einführung der Rubrik Horizonte schreibt Bernhard Pörksen, dass die systemische Theorie mittlerweile sozusagen ins Biedermeier gekommen ist. Er will damit wohl sagen, man denkt halt immer nur in den eigenen Grenzen und dass man sich in den immer selben Ideen eingerichtet hat. Ich würde mir wünschen, eben gerade für das systemische, kollegiale Feld, dass dort eine Reflexion einkehrt darüber, wozu eigentlich all diese Lebens-Systeme führen, wenn wir sie so oder so besprechen und beschreiben, was die für Auswirkungen haben. Diese Art von Reflexion, wenn man so will auch die politische Verantwortlichkeit oder das Mitreflektieren der politischen Auswirkungen, das geschieht meiner Meinung nach wenig. Und das würde ich mir wünschen, dass hier mehr Bezugnahme zur Welt und die Auswirkungen dessen, was wir als Berater tun, dass auch das mehr mitbesprochen wird. Und wenn dazu ein neuer Begriff dienlich ist, dann bin ich froh.
Bezugnahme zur Welt
Es geht ja letztlich immer nur darum, dass wir etwas in Diskussion bringen, in Diskurs bringen, dass wir Unterscheidungen beschreiben, Unterschiede einführen –das sind Grundsätze des Systemischen. Also was ich versuche ist, eine Unterscheidung einzuführen, die einen Unterschied macht, die einlädt ein bisschen anders hinzuschauen, die andere Bedingungen miteinbezieht. Und aus dieser rein menschlich orientierten Betrachtung von Systemen und Kommunikationssystemen etwas rauszugehen und auch aus dieser extremen Abstraktionsfreude, die sich dann auch noch entwickelt hat, dass man letztendlich alles nur noch auf eines reduziert. Ein Wunsch, dass vielleicht differenzierte, unterschiedliche Stimmen miteinander in Kontakt kommen.
Die sympoietische Stimme ist sicher eine, die sagt: „Moment, wir leben nicht nur unter Menschen in einem luftleeren Raum, sondern wir leben unter Menschen unter ganz bestimmten geschichtlichen historischen Bedingungen. Wir leben zudem auf einem Ort, nämlich einer sogenannten Erde, diese Erde hat ganz bestimmte Bedingungen und Bewegungen und mit dieser Erde leben wir aufs Engste zusammen. Das ist unsere Nische und es ist sinnvoll, diese Dinge miteinzubeziehen, auch in die therapeutische oder beratende Begleitung von Menschen. Weil die ja eben auch nicht in einem luftleeren Raum krank sind oder Unterstützung suchen.”
Sinha: Was kann man mit diesem Natur-Dialog Ansatz machen als professionelle Begleiterin von Menschen?
Habiba: Im Buch gibt es viele Beispiele. Durchs ganze Buch hindurch und dann gibt es ein ganzes Kapitel mit vier erzählten Fallgeschichten. Und hier habe ich nicht einfach Menschen beschrieben, sondern ich habe sie in diesen Prozess eingeladen, und das ist auch eine sehr spannende Kooperation gewesen. Und ganz zum Schluss gibt es noch einen Abschnitt zu kollegialen Gesprächen, wo ich mit fünf Menschen aus verschiedenen Berufsbereichen kurze Interviews zu verschiedenen Aspekten des Natur-Dialogs führe.
Es geht ja in diesem Ansatz, wie vermutlich in jeder Beratung, in jeder Schule von Beratung letztendlich um die Frage: Wie richte ich meine Aufmerksamkeit und wie bringe ich das, was ich erlebe mit mir in Kommunikation und mit der Welt in Kommunikation. Auch wenn es ganz unterschiedliche Wege sind. Ich würde sagen: Wir haben keine andere Möglichkeit. Wir sind kommunikative Wesen, die mit Aufmerksamkeit ausgestattet sind – und das ist vielleicht das Grossartigste, auch das Zauberhafteste, was es in der Welt gibt: Aufmerksamkeit. Alle Aufmerksamkeit, die es überhaupt in der Welt gibt und unsere menschliche, spezifische dann auch noch dazu. Und diese Aufmerksamkeit, die Art und Weise, wie wir damit in der Welt sind, das macht einen grossen, grossen Unterschied.
Jede Beratung, meiner Meinung nach, wird darauf abzielen, die Aufmerksamkeitsfähigkeit von Kund:innen und Klient:innen in Kontakt mit dem Körper, der da ist und in Kontakt mit der Welt, die da ist zu bringen. So, dass diese Aufmerksamkeit sinnvolle Impulse gibt und wir uns in eine Sinngeschichte eingebettet fühlen. Wenn die Aufmerksamkeit gut gerichtet ist, kann man sich auf das einlassen, wozu es diesen Körper, dieses Wesen führt.
So gesehen ist dieser Ansatz oder auch der Natur-Dialogische Ansatz, der sympoietische Ansatz eine grosse Aufmerksamkeitsschule. Und diese Aufmerksamkeitsschule ist an vielen Ort einsetzbar. Und sie ist auch an vielen Orten nötig.
Unverfügbar aufmerksam sein können
Weil, und jetzt kommt meine Problemhypothese, weil die Lebensweisen von ganz vielen Menschen sind in höchstem Masse toxisch, was Aufmerksamkeiten betrifft. Viele Menschen haben nicht die Freiheit oder das Recht, ihre Aufmerksamkeiten in einer Art und Weise in die Welt hinauszubringen, wie es glücklich wäre. Wie es Sinn machen würde. Wie es erträglich wäre. Ich glaube, dass wir Menschen in Bedingungen leben, in denen wir kaum mehr über unsere Aufmerksamkeit verfügen können.
Das sind ja Gedanken, die Matthew Crawford stark ausformuliert und durchdacht hat in seinem Buch “Wiedergewinnung der Wirklichkeit”. Und diese Rückgewinnung, diese Neuschulung, dieses Recht auf Aufmerksamkeit, das ist eben eine Erfahrung, die Menschen leichter machen können, wenn sie sich in Naturräumen bewegen, wenn sie sich draussen bewegen. Weil die Natur, wenn sie nicht schon zu einem hochpotenten Natur-Lehrpfad ausgebaut ist, nicht an unserer Aufmerksamkeit knabbert. Der Wald, der hat mir nichts zu verkaufen. Ich bin kein Konsument für den Wald.
Sofern ich nicht durch den Wald gehe und meine, der Wald ist meine Ware, sofern es uns gelingt in einen Naturraum ohne Absichten einzutreten, ohne ökonomische oder ökologische Absichten, nicht mal mit psychologischen Absichten ( ;-)– die sind genauso schlimm). Wenn das möglich wird in diese Art von Aufmerksamkeit einzutauchen, die ich dann mit dem Streunen vergleiche, dann machen Menschen die Erfahrung dieser Wechselseitigkeit.
Bei gleichzeitiger Freiheit das oder dies zu schauen, so lange zu schauen bis wieder ein anderer Impuls kommt dorthin zu schauen. Sie haben eine Chance auf die Erfahrung von gehaltener und gerichteter Aufmerksamkeit. Und das…kann man überall brauchen. Das ist in der Pädagogik enorm wichtig, natürlich in der Psychotherapie wesentlich. Das ist in der ganzen Erwachsenenbildung wichtig. Das ist aber auch möglich und einsetzbar in Gemeinwesenprojekten, in politischen Projekten, in Regionalentwicklungsprojekten und massgeblich spielt das auch hinein in die Kunst, in alle Gestaltungsberufe, also überall dort, wo wir mit Aufmerksamkeit arbeiten, wo Aufmerksamkeit gerichtet, gelenkt oder eingefangen werden will. Überall dort kann man den Natur-Dialog Ansatz brauchen.
Und das, was wir in der Natur erleben, nämlich dass wir bemerken, wir können den Regen nicht einfach ausschalten und dieser Wind, der bläst wie er will und diese Sonne ist heiss und diese Steine sind hart oder dieses Meer ist grossartig. Diese unmittelbare Erfahrung von Unverfügbarkeit des Lebendigen. Aber auch unserer eigenen Unverfügbarkeit. Das ist ein heilsamer und wichtiger Lernprozess. Wir Menschen sind ungeheuer verfügt von den Strukturen und der Art von Leben, die wir geschaffen haben. Und wie grossartig, wenn wir uns und die Welt in ihrer Unverfügbarkeit erleben dürfen. Da passiert so viel Unerwartetes. Da kann die Spontanität des Lebendigen auftauchen. Diese kleinen Überraschungsmomente. Oder auch die Stille. Und das ist die Idee, daran mit Klient:innen und Kund:innen zu arbeiten.
Sinha: Ich habe gehört, dass es in Deinem Buch ja noch dieses tierische Wesen der schwarzen Katze gibt, die sich durch die Seiten treibt.
Habiba: Die Katze ist die Mentorin des Streunens. An der Katze und mit der Katze erzähle ich im 2. Kapitel die Grundlagen dieses erkenntnistheoretischen Zugangs der reziproken Aufmerksamkeit. Der Ansatz spricht ja von drei grossen Lernfeldern. Er spricht von der Erdverbundenheit, er spricht von der Erinnerungspraxis und er spricht von der Resonanzkultur. Und in der Erinnerungspraxis beziehe ich mich ja auch auf diese immer weiter werdenden Erkenntnisse aus der Archäologie, und aus den Geschichtswissenschaften, dass wir als Spezies Mensch, dass unsere menschlichen Urahnen sehr, sehr lange mit grosser Wahrscheinlichkeit in einer sympoietischen, ko-kreativen, kooperativen Art und Weise mit der Welt zusammengelebt haben. Und dass auch die ganze Jäger-Sammler-Zeit, also die sogenannte Vorgeschichte, ein Archiv von tiefer Erinnerung dessen ist, dass wir ein gutes Leben führen und dass wir es miteinander aushalten können hier auf dieser Erde. Und insofern sind Jäger, sind Tiere und ist auch diese Katze bedeutsam. Und die Hauskatzen – also die sind eben schon speziell. Sofern es ihnen durch irgendwelche Katzentürchen erlaubt ist, gehen diese Katzen einfach hinaus, wann sie wollen, gehen, streunen, jagen und kommen wieder – wann sie wollen. Und die machen diesen Wechsel zwischen Haus oder Hof und dem äusseren Raum. Und das finde ich ein schönes Bild auch für unsere menschlichen Möglichkeiten. Natürlich wir sind keine Katzen, unsere Spezies hat andere Möglichkeiten. Aber dieser Wechsel von geschütztem Raum, rund ums Feuer damals oder im Haus oder in der Stadt heute, und dann aber auch wieder hinausziehen in diesen wilden Raum, in dem die mehr als menschliche Welt eine stärkere Stimme hat, ist bedeutsam.
Diese Pendelbewegung, die halte ich für ganz wichtig für unsere Entwicklung und auch für unser Begreifen, wo wir leben. Die Rhythmen der Erde, die Zeit, die Regeneration der natürlichen Abläufe, die Kreisläufe, die da sind, die Begrenztheit auch der Ressourcen, die da sind. Dieses sich wieder und immer wieder neu Erschaffende der Welt, das müssen wir erleben, sonst glauben wir das ja gar nicht mehr.
Sinha: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Durch die Bewegung im Raum erlebe ich nicht nur diese Ausrichtung und das Gehalten sein in der Stille, wie es etwa bei vielen kontemplativen Verfahren stattfinden. Sondern ich bin ein handelndes Wesen in einem handelnden Raum und dadurch lernt mein Körper die ganzen verschiedenen Dimensionen des Raumes wiederkennen und der Raum lernt mich wiederkennen. Und das ist noch dazu alltagspraktisch. Wir bewegen uns, wir kochen, wir machen was, wir tun was. Für mich hat es ganz viel zu tun mit dieser lebenspraktischen Bewegung im Raum. Das ist wie den inneren Kompass zu kalibrieren. Ich bekomme wieder eine Idee davon, wo ich überhaupt lebe.
Spannende Begriffe aus dem Natur-Dialog Ansatz erläutert. Hier geht’s zu den Videos aus dem Gespräch.
Fussnoten
- Donna J. Haraway (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Campus Verlag
- [1] Beth M. Dempster (1998): A Self-Organizing Systems Perspective On Planning for Sustainability, MA thesis, Environmental Studies, University of Waterloo
- [2] Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela (2009): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Fischer Verlag
- [3] Matthew B. Crawford (2016): Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung, Ullstein eBook
Sinha Weninger ist Naturtherapeutin, Dozentin für Sozialpädagogik, Mutter und verantwortlich für das Natur-Dialog Magazin. Weitere Infos unter www.weninger.info
Foto: Thomas Zerlauth
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